Das Neue an diesem Projekt wird evident, wenn wir es mit den Dokumentationen vergleichen, die zur Zeit der deutschen Teilung realisiert wurden: der in zehn Kassetten vorgelegten Schallplattenreihe des Deutschen Musikrates „Zeitgenössische Musik in der Bundesrepublik Deutschland“, aber auch der DDR-Dokumentation „Unsere neue Musik“ auf 50 Schallplatten, die bis Ende der Siebziger Jahre erschien. Während die östliche Reihe ohne erkennbare formelle Grundsätze (dafür aber klanglich restriktiv) überwiegend aus Komponisten-Porträts bestand, war die westliche Konzeption chronologisch orientiert, nach Dekaden gegliedert und – bei aller Breite der Auswahlkriterien – doch überwiegend einer Idee Neuer Musik verpflichtet, die damals das zeitgenössische Komponieren noch anders als heute dominierte. Zudem beschränkte sich die Auswahl der Komponisten – im Widerspruch zur international verflochtenen Realität – auf deutsche Staatsbürger, als Inhaber eines bundesdeutschen Passes.
Musikgeschichte muss – wie Geschichte generell – von Generation zu Generation neu geschrieben werden, weil Quellensituation und historiographische Perspektiven sich wandeln. Dies gilt auch für die Form der akustischen Aufzeichnung, die sich im 20. Jahrhundert aufgrund der technologischen Entwicklung neu ergeben hat. Da auswählende Dokumentationen und insbesondere Präsentationen eines Epochenrückblicks immer auch zur Bestimmung eines eigenen Standorts dienen, empfiehlt sich für das kulturelle Gedächtnis der am Anfang des neuen Jahrtausends noch jungen, wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland eine solche Unternehmung als notwendige Aufgabe – mit dem konkreten Ziel, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs getrennten, nach 1990 wieder gemeinsamen Entwicklungsphasen der zeitgenössischen Musik zu dokumentieren. Dieser Herausforderung stellt sich der Deutsche Musikrat mit der CD-Dokumentation „Musik in Deutschland 1950–2000“, die wir als Editionsleiter betreuen und in den nächsten Jahren mit einem wachsenden Kreis spezialisierter Autoren veröffentlichen wollen. Das großangelegte Vorhaben erscheint bei RCA RED SEAL/BMG Classics. Das Neue an diesem Projekt wird evident, wenn wir es mit den Dokumentationen vergleichen, die zur Zeit der deutschen Teilung realisiert wurden: der in zehn Kassetten vorgelegten Schallplattenreihe des Deutschen Musikrates „Zeitgenössische Musik in der Bundesrepublik Deutschland“, aber auch der DDR-Dokumentation „Unsere neue Musik“ auf 50 Schallplatten, die bis Ende der Siebziger Jahre erschien. Während die östliche Reihe ohne erkennbare formelle Grundsätze (dafür aber klanglich restriktiv) überwiegend aus Komponisten-Porträts bestand, war die westliche Konzeption chronologisch orientiert, nach Dekaden gegliedert und – bei aller Breite der Auswahlkriterien – doch überwiegend einer Idee Neuer Musik verpflichtet, die damals das zeitgenössische Komponieren noch anders als heute dominierte. Zudem beschränkte sich die Auswahl der Komponisten – im Widerspruch zur international verflochtenen Realität – auf deutsche Staatsbürger, als Inhaber eines bundesdeutschen Passes. Schöpferische KräfteBeim bevorstehenden Projekt kommen drei wichtige Gegebenheiten hinzu: erstens eine Berücksichtigung der Entwicklung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Jahre 2000, welche den gesamten Zeitraum der Dokumentation auf 55 Jahre erweitert, zweitens eine gemeinsame Berücksichtigung der zuvor getrennt dargestellten Bereiche der früheren Bundesrepublik und der DDR, und drittens eine gewandelte historiographische Konzeption, welche auch breitere Schichten der zeitgenössischen Musikkultur zu erfassen strebt und angewandte, populäre Musik sowie die differenzierten Szenen des Jazz mit einschließt. Es ist zudem fast überflüssig zu sagen, dass bei einer Dokumentation zeitgenössischer „Musik in Deutschland“ jene schöpferischen Kräfte nicht unberücksichtigt bleiben können, die aus aller Welt kamen und hier, zeitweilig oder dauerhaft und völlig unabhängig von der Frage des Passes, die musikalischen Entwicklungen entscheidend mitgeprägt haben.
An die Stelle einer nach Jahrzehnten gegliederten Kompositionsgeschichte Neuer Musik, wie sie in der früheren Dokumentation des Deutschen Musikrates realisiert wurde, tritt eine pragmatisch orientierte, die Musikkulturen insgesamt berücksichtigende Darstellung des musikhistorischen Bestandes, für welche gattungs- und funktionsspezifische Kriterien des musikalisch Neuen sowie des kulturhistorisch Bedeutsamen verbindlich sind. Diesem Zweck angemessen erscheint eine Struktur, die einerseits die gattungsmäßige Entfaltung zeitgenössischer Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, andererseits aber auch die radikale Infragestellung der Gattungskategorie durch die Avantgardemusik darzustellen erlaubt.
Eine historisch neuartige Herausforderung erwächst aus der Absicht, die Idee einer „praktischen Geschichtsschreibung“ – so charakterisierte Dahlhaus das Vorhaben der früheren Schallplatten-Dokumentation – auf eine Phase der deutschen Geschichte zu beziehen, die nach dem Ende des Nationalsozialismus und des von ihm herbeigeführten Weltkrieges durch eine mehrere Jahrzehnte währende Trennung zwischen West- und Ostdeutschland also der (alten) Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik charakterisiert war, bis der Untergang der DDR eine uneingeschränkte staatliche Souveränität des vereinten Deutschland im Rahmen der demokratischen Staatengemeinschaft ermöglichte. Die beiden Teile Deutschlands waren in den Nachkriegsjahrzehnten eingebunden in gegnerische Systeme, andererseits hatten sie mit der früheren deutschen Geschichte eine gemeinsame Vergangenheit, die wirkungsmächtig ihre Musikkulturen mitprägte. Die staatliche Trennung wird daher gerade nicht zum Gliederungsprinzip der Musikdokumentation gemacht, vielmehr soll die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1990 im Sinne eines kontrastierenden und konvergierenden Zusammenhangs „gemischt“ dargestellt werden, um die Nachteile, welche dem Osten Deutschlands durch die Einbindung in den sowjetischen Machtbereich erwuchsen, nicht musikhistoriographisch festzuschreiben und eine sachgerechte Prüfung seiner kompositorischen Leistungen zu ermöglichen.
Die Erweiterung der historiographischen Konzeption über eine Musikgeschichtsschreibung der Avantgarde hinaus zeitigt eine Reihe von Konsequenzen für die Anlage der Dokumentation. Eine historisch-chronologische Gliederung des Ganzen, etwa nach Jahrzehnten, wäre eine allzu grobmaschige Disposition, als dass sie der Gefahr einer Vermengung des Unvereinbaren Einhalt bieten könnte. Andererseits soll und darf der chronologische Aspekt nicht völlig ausgeblendet werden, ist er doch nach wie vor Spiegel und Rückhalt einer historischen Fundierung, welche dann, wenn die ausgewählten Musikwerke ihre ästhetische Geltung noch für Gegenwart und Zukunft sollen erweisen können, für ein Verstehen ihres Zustandekommens unabdingbar bleibt. Allein eine flexible Disposition ist daher imstande, den unterschiedlichen Geltungszeiten einzelner musikalischer und musikhistorischer Paradigmen Rechnung zu tragen.
Funktionale Einteilung
Aus den genannten Gründen wird der Gesamtbestand der CD-Dokumentation eingeteilt in funktional unterschiedliche Hauptgruppen, welche die Verzweigung der Gattungskategorie in einzelne Besetzungstypen und die Hauptsphären der Musikkulturen spiegeln. Auf der obersten Ebene sind es voraussichtlich: Konzertmusik (instrumentale und vokale Musik in unterschiedlichsten Formationen), Elektronische Musik, Musiktheater, Angewandte Musik, Jazz und Populäre Musik. Innerhalb dieser Abteilungen, die noch weiter aufgefächert werden, um eine besonders aussagekräftige und spannend anzuhörende Präsentation der musikalischen Erscheinungen zu ermöglichen, wird der Bestand in doppeltem Sinn strukturiert: nach Werkreihen (S=Serie) und Porträts (P=Port-räts).
Die chronologisch angeordneten Werkreihen – je nach Repertoire und Gewicht in längeren oder kürzeren Zeitperioden – bringen die geschichtliche Entwicklung der Gattungskomplexe in Grundzügen zum Ausdruck, wobei die Serien nicht nur den hergebrachten Gattungen wie Sinfonie oder Streichquartett vorbehalten sind, sondern auch – bei entsprechender Begründung – in der Avantgardemusikkultur neuartige Phänomene wie Instrumentales Theater oder Klang-Installationen umfassen. Die Porträts – gerade nicht auf einzelne Persönlichkeiten bezogen – wollen spezielle sachliche Aspekte des geschichtlichen Prozesses akzentuieren und erlauben eine ganz individuelle, freie Darstellung bestimmter Themen, etwa der mäzenatischen Funktion der Rundfunkanstalten oder des innovativen Typus der „Klangkomposition“, ohne diachronische oder besetzungsmäßige Restriktionen. Jeder CD ist ein umfangreiches Booklet beigegeben, dessen Autor auch die Auswahl der Stücke vorgeschlagen hat.
Der erweiterte Zeitraum und die breitere Konzeption machen es notwendig, das Projekt mit rund einhundertfünfzig CDs so zu dimensionieren, dass der Anspruch der Dokumentation, ein aus gegenwärtiger Sicht repräsentatives Bild dieser jüngsten musikhistorischen Periode der deutschen Musikgeschichte zu bieten, einlösbar wird. Mit 13 CDs wird die Edition in diesem Frühling eröffnet und im Rahmen der Frankfurter Musikmesse am 11. April 2000 der Öffentlichkeit vorgestellt: die eine Box mit 6 CDs bietet einen Porträt-Überblick über Orchestermusik nach verschiedenartigen Gesichtspunkten, die anderen 7 CDs stellen einen Querschnitt aus den einzelnen Hauptgruppen dar, so dass gleich zu Beginn die ganze Breite des Unterfangens ersichtlich wird.