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Britten to America
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Der unbekannte Britten: CDs mit frühen Streichquartetten sowie Radio- und Theatermusiken

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Die zu Lebzeiten nicht publizierten Früh- und Nebenwerke von Benjamin Britten sind in zweierlei Hinsicht besonders ergiebig: Erstens qualitativ, weil die Sinfonietta op. 1 von 1932 bereits die No. 746 (sic!) von insgesamt 1.183 Einträgen im thematischen Katalog der Britten-Pears Foundation darstellt – die 95 Opusnummern also bloß die Spitze des Eisbergs bilden; zweitens qualitativ, weil Britten da zuweilen mehr Risiken eingeht und sich in Stilrichtungen bewegt, von denen er sich sonst fernhält.

Der knappe zweite Satz des F-Dur-Streichquartetts, das er als vierzehnjähriger Schuljunge niederschrieb, entfernt sich unbekümmert vom ansonsten vorherrschenden Dvořák-Stil der übrigen drei Sätze und wird gegen Ende hin immer dissonanter. Der erste Unterricht bei Frank Bridge hatte erstaunlich schnell Früchte getragen; das Komponieren ging Britten (sofern er nicht, wie in seinen letzten Lebensjahren, krank war) lebenslang außerordentlich leicht von der Hand.

Als nächstes entstand eine „Rhapsody“ in unsicherer Tonalität, das gar nicht leichtgewichtige „Quartettino“ von 1930 bewegt sich dann ganz auf der Höhe kontinentalen Komponierens. Im nächsten Jahr folgte das (auf einer früheren CD enthaltene) Streichquartett in D und schließlich Anfang 1932 als einziger bekannter Streichquintettsatz die hier berücksichtigte „Phantasy“ in f-Moll als Vorläufer des einigermaßen vertrauten „Phantasy Quartet“ op. 2 für Oboe und Streichtrio aus demselben Jahr. Obwohl das ambitioniertere, aber äußerlich weniger attraktive Streichquintett (mit zwei Bratschen) einen Preis gewann und sogar im Rundfunk übertragen wurde, wurde es nach 1933 nicht mehr aufgeführt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein gerechteres Schicksal wurde der „Simple Symphony“ op. 4 zuteil, die seither zu einem beliebten Repertoirewerk für Kammerorchester avancierte, aber von vorneherein auch als Quartettfassung konzipiert war. Mit diesem „Hit“ beginnt unsere CD, obwohl er eigentlich als krönender Abschluss an deren Ende stehen müsste. Oder etwa doch nicht? Der Zwanzigjährige verarbeitete darin nämlich auf (alt)meisterlich-humoristische Weise thematisches Material, das er eigenen Liedern und Instrumentalstückchen aus den Jahren 1923-26 (!) entnahm.

Das Emperor Quartet hat Brittens Gesamtwerk für Streichquartett (darunter fast zwei Stunden Musik, die vor dem offiziellen 1. Quartett entstand) zwischen 2005 und 2011 aufgenommen. Aber anstatt zum Brittenjahr 2013 eine 3-CD-Box zu veröffentlichen, hat sich BIS entschieden, die Folgen einzeln (die letzte davon um ein Jahr verspätet) und alles andere als chronologisch herauszugeben, sodass sich der Hörer, der die rasante Entwicklung des jungen Britten anhand seines Quartettstils nachvollziehen möchte, gezwungen sieht, die CDs zu wechseln und sogar innerhalb der Folgen hin und her zu hüpfen (obwohl der Booklettext so tut, als wäre die Ordnung gewahrt). Das ist schade, denn die Qualität der Musik spottet dem geringen Lebensalter Brittens, und das feinfühlig-einfühlsame, temperamentgeladene Spiel der zwei Damen und zwei Herren vom Emperor Quartet erweist sich als ebenso außerordentlich wie der SACD-Klang.

Ein bislang ebensowenig erschlossenes Gebiet sind Brittens Gebrauchsmusiken für die Bühne und den Rundfunk, wobei erstere aus den dreißiger Jahren meist auf Texten von WH Auden und Christopher Isherwood beruhen und letztere propagandistische Zwecke verfolgen; sie stehen in Zusammenhang mit Brittens längere Zeit ungeklärtem Status als Wehrdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg: Nach seiner offiziellen Anerkennung als Pazifist wandte er sich sofort vom Radio ab und der Opernbühne zu: Der „Peter Grimes“ lockte.

Trotzdem muss er sich für die voll orchestrierte Partitur zur live übertragenen Serie „An American In England“ (1942) nicht schämen. Damit die illustrative Musik allerdings Sinn ergibt, kommt sie, wie die auf konkrete Theatersituationen zugeschnittene, nicht ohne Erzählerstimme aus (großartig, ob mit englischem oder amerikanischem Akzent: Samuel West). Die anhand großzügiger Mittel der Britten-Pears Foundation realisierte Einspielung unternimmt mit den heutigen technischen Möglichkeiten eine Rekonstruktion der mit Musik unterlegten Abschnitte der damaligen Sendungen; sie setzen beim Hörer allerdings sehr gute Englischkenntnisse voraus, da keinerlei Übersetzungen mitgeliefert werden und nur die gesungenen Teile überhaupt abgedruckt sind.

Die Bühnenmusiken dagegen sind sparsam instrumentiert (kaum mehr als zwei Klaviere und Schlagwerk), ziehen dafür aber einen professionellen Chor und gelegentlich Gesangssolisten hinzu. „On The Frontier“ (1938) nimmt in fiktionaler Form den bevorstehenden bewaffneten Konflikt zwischen den noch freien und den schon unter der faschistischen Knute sich beugenden Ländern vorweg. Der gegenüber Brittens „zeitlosen“ Werken für das Musiktheater und den Konzertsaal verminderte ästhetische Anspruch solcher Arbeiten wird durch ihre Eigenschaft als faszinierende Zeitdokumente teilweise wett gemacht.

Der inzwischen berühmt gewordene Funeral Blues „Stop All The Clocks“ und der in chorischem Wechselgesang vorgetragene, spritzige Cabaret Jazz Song „Forget The Dead“ (beide aus der Theatermusik zu „The Ascent Of F6“, 1937) brauchen hingegen keinerlei Entschuldigung – sie klingen so, als wären sie geradewegs einem erfolgreichen Musical entsprungen. Wenn Britten sich in Amerika wohlgefühlt hätte, wäre ihm eine Karriere am Broadway offen gestanden.     

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