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Die Herren der linken Hand: Leon Fleisher und Gary Graffman – Editionen zum 85. Geburtstag

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Zwei der großen amerikanischen Klavierlegenden wird in diesem Jahr anlässlich ihres 85. Geburtstags erhöhte Aufmerksamkeit zuteil: Leon Fleisher, geboren am 23. Juli 1928 in San Francisco, und Gary Graffman, geboren am 14. Oktober 1928 in New York City.

Für uns in Europa ist unter den beiden vor allem Fleisher seit jeher ein Begriff, insbesondere mit seinen berühmten Aufnahmen der Klavierkonzerte von Beethoven und Brahms mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell, die in der Tat nach wie vor, was Geschlossenheit des Ausdrucks und sowohl musikantisch präzise als kammermusikalisch durchziselierte orchestrale Spielkultur betrifft, zu den Gipfeltreffen des konzertanten Genres zählen. Graffman, den langjährigen Direktor des Curtis Institute in Philadelphia und Mentor von Lang Lang, kennen die meisten weniger, doch seine wenigen Konzertaufnahmen wie jene mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch sind unter Kennern auch legendär.

Fleisher und Graffman haben viel mehr gemeinsam als die gewachsene Jugendfreundschaft. Ein weniger jünger als William Kapell und etwas älter als der unlängst verstorbene, sensationelle Tschaikowsky-Preisträger von 1958 Van Cliburn, bilden sie unverrückbare Eckpfeiler der ersten großen Generation originär US-amerikanischer Pianisten, und schließlich sollte ein und dasselbe Schicksal zunächst Fleisher, dann Graffman einholen: der krankheitsbedingte Verlust der Fähigkeit, mit der rechten Hand zu spielen. Fleisher war zuerst dran, nach seiner herrlichen Aufnahme von Schuberts Wanderer-Fantasie im Herbst 1963. Doch 14 Jahre später, 1977, sollte sich Graffman, zunächst ausgehend von einer Fingerverletzung, plötzlich in keiner anderen Situation wieder finden.

Fleisher gelang es tatsächlich, diese Krankheit – fokale Dystonie – zu überwinden, und ab den 1990er Jahren trat er wieder beidhändig auf und ist heute der große alte Mann unter Amerikas Pianisten, dessen Spiel von verinnerlichter Abgeklärtheit zeugt. Wie Fleisher wurde auch Graffman unter diesen hemmenden Umständen zu einem der gesuchtesten und brillantesten Klaviermentoren der letzten Jahrzehnte, wobei ihm jedoch das beidhändige Comeback versagt geblieben ist. Dafür sollte es im April 1996 in Baltimore tatsächlich zu einer ganz speziellen Uraufführung kommen, in welcher die beiden alten Kameraden Seite und Seite auftraten: in dem Konzert ‚Gaea’ für 2 Klaviere linke Hand und Orchester von William Bolcom.

Während es sich von selbst versteht, dass für eine solche Gelegenheit ein neues Werk geschrieben werden musste, konnten sich Fleisher und Graffman in ihrer misslichen Lage sogar noch glücklich schätzen, dass ihnen vier Jahrzehnte zuvor der in Wien geborene Pianist Paul Wittgenstein (1887-1961) nicht nur – aufgrund kriegsbedingter Amputation des rechten Arms – mit parallelem Schicksal vorausgegangen war, sondern aufgrund seiner sehr begüterten Verhältnisse in der Lage war, quasi unbegrenzt von den großen Komponisten seiner Zeit Auftragswerke zu bestellen, wodurch die ungeheure Fülle von Konzerten, Kammermusikwerken und Solostücken für die linke Hand zustande kommen sollte, die teils ins Standardrepertoire eingegangen sind und bezüglich der Substanz die Literatur für manches andere Soloinstrument bis heute in den Schatten stellen: konzertante Werke von Maurice Ravel, Sergej Prokofieff, Franz Schmidt, Richard Strauss, Benjamin Britten, Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold, Karl Weigl, Josef Labor und Sergej Bortkiewicz, und viele weitere Werke von Schmidt, Korngold, Strauss, Gál, Lipatti, Tansman, Takács, Moriz und Felix Rosenthal, Godowsky, Ernest Walker und anderen. Wie viel herber wäre da für Fleisher und Graffman der Verlust der linken Hand ausgefallen!

Leon Fleisher war Schüler Artur Schabels, der russisch-jüdisch-stämmige Gary Graffman von Isabelle Vengerova, Vladimir Horowitz und Rudolf Serkin. Nun hat Sony Classical anlässlich des Jubiläums die kompletten Columbia-Aufnahmen Fleishers in einer luxuriösen, 23 CDs in Original-Mini-LP-Hüllen umfassenden Anthologie veröffentlicht, und sämtliche Schallplatten, die Graffman von 1955 bis 1979 für RCA und Columbia machte, in einer 24-CD-Box herausgebracht. Vieles ist hiermit erstmals auf CD erhältlich (bei Graffman gibt es dadurch, dass gelegentlich eine ältere Aufnahme gekoppelt mit einer jüngeren nochmal erschien, auch ein paar Dopplungen; im Falle Fleishers enthält die Kollektion nicht ganz alles, was er aufgenommen hat, wie etwa die Ersteinspielung der von ihm uraufgeführten Klaviermusik für die linke Hand mit Orchester von Paul Hindemith für Ondine).

Technisch vollendeter Virtuose ohne Show-Attitüde: Gary Graffman

Gary Graffman erweist sich durchweg als technisch vollendeter Virtuose, dem jegliche oberflächliche Show-Attitüde fern liegt, dessen Aufführungen durch wohlbalancierte Klarheit und wohltuend nüchterne Musikalität bestechen. Sein aufgenommenes Repertoire ist relativ schmal und einige seiner Lieblingswerke hat er mehrmals eingespielt. Als besonders meisterlich ist er im russischen Repertoire anzusehen, seien es Mussorgskys Bilder einer Ausstellung, Rachmaninoff, Tschaikowsky oder vor allem Prokofieff, dessen 2. und 3. Sonate sowie 1. und 3. Konzert zu seinen Favoriten zählen. Vorbildlich in der Deutlichkeit der Faktur ist sein Schumann (Symphonische Etüden, Sonate g-moll, Carnaval), und ähnliche Qualitäten prägen sein Beethoven- (Waldstein, Appassionata, op. 100 und op. 111), Schubert- und Brahms-Spiel. Bach und Mozart hingegen fehlen gänzlich.

Die große poetische Vision ist weniger seine Sache, was bei Schubert, Schumann und Chopin oft für einen mehr soliden als inspirierten Eindruck sorgt, was aber auch Balakirevs Islamey beispielsweise zu einem leeren Demonstrationsstück pianistischer Verve werden lässt. Graffman bewegt sich innerhalb des Bekannten, und dies tut er auf sehr überzeugende, rundweg kompetente Weise. Insgesamt würde man einen weniger sachlich spitzen Zugriff wünschen, eine weniger offensichtliche Sicherheit der Darbietung zugunsten des unvorhersehbar Entstehenden, doch seine Integrität und instrumentale Klasse stehen außer Zweifel.

Auch kammermusikalische Raritäten sind dabei wie die 1. Fauré-Sonate und Debussys Sonate mit dem Geiger Berl Senofsky (1926-2002) oder Klaviertrios von Brahms und Beethoven mit Senofsky und Shirley Trepel. Und dann natürlich die Konzertaufnahmen: die Tschaikowsky-Konzerte (mit Szell und Ormandy), sehr fesselnd von Rachmaninoff das Zweite und die Paganini-Rhapsodie mit Leonard Bernstein und Prokofieffs Erstes und Drittes mit George Szell, oder aus den früheren Jahren bis 1960 Brahms’ Erstes und Chopins Erstes mit Szell und Beethovens Drittes mit Walter Hendl. Die Freunde virtuoser Klaviermusik werden sich über sein fulminantes Liszt-Album von 1960 freuen, die Liebhaber der klassischen Moderne über Bartóks Suite op. 14 und die selten zu hörende 4. Klaviersonate von Benjamin Lees (1924-2010).

Tiefsinniger Musiker: Leon Fleisher

Ich möchte keinen Moment in Frage stellen, dass Leon Fleisher, pianistisch wenigstens ebenso makellos, der herausragendere, eigentümlichere und tiefsinnigere Musiker ist. Um das zu erkennen, muss man nur einmal das Schubert-Album hören, das er als letztes vor seiner Erkrankung eingespielt hat. Schon seine erste Aufnahme, 1954-55 mit Schuberts postumer B-Dur-Sonate, weist ihn als legitimen Fortführer der Schule Artur Schnabels aus, und die daraufhin entstandene Einspielung von Brahms’ Händel-Variationen bestätigt das hohe Karat. Dann geht 1956 auch schon die Zusammenarbeit mit George Szell und dem fabelhaften Cleveland Orchestra in die erste Runde: mit Rachmaninoffs Paganini-Rhapsodie und Francks Variations symphoniques.

Es folgen mit diesen Musikern die maßstabsetzenden Aufführungen der beiden Brahms-Konzerte, von Mozarts KV 503, Schumann und Grieg, der fünf Beethoven-Konzerte, die in ihrer kraftvoll feinnervigen Gestaltung bis heute immer wieder als Referenzen zitiert werden. Gleichzeitig ist auch anderes höchst wertvoll, so etwa die endlich wieder erhältliche Hindemith-Platte (1955-56) des Niederländischen Kammerorchesters unter seinem grandiosen Leiter Szymon Goldberg, wo neben Fleishers Part in den Vier Temperamenten die Trauermusik für Viola und Streicher mit Paul Goodwin und die 5 Streicherstücke op. 44 Nr. 4 in hinreißend idiomatischer Weise zu hören sind. Und dann spannt Fleisher solistisch den weiten Bogen seiner stilistischen Vielseitigkeit: Debussy und Ravel (dies insgesamt etwas zu erdgebunden und knackig), wunderschön ausmusizierte Mozart-Sonaten, Liszts h-moll-Sonate, Carl Maria von Webers quirlige 4. Sonate und Aufforderung zum Tanz, und ein blendend serviertes amerikanisches Album mit Coplands Sonate, Leon Kirchners 1. Sonate, Roger Sessions und Ned Rorem (1963).

Eine kuriose Überraschung gibt es 1960 aus Marlboro, als er im Duett mit Rudolf Serkin Brahms’ Liebeslieder-Walzer begleitet. Furios dann noch 1963 Brahms’ Klavierquintett mit dem Juilliard Quartet, groß in der weitschauenden Disposition der Energien Schuberts Wanderer-Fantasie und A-Dur-Sonate D 664. Doch da reißt die Karriere ab, und knapp drei Jahrzehnte später folgen 1991 Solostücke für die linke Hand von Jenö Takács, Saint-Saëns, Felix Blumenfeld, Scriabin, Johann Strauss/Godowsky und – Johann Sebastian Bachs Chaconne für Violine solo in der Bearbeitung von Johannes Brahms. Letztere ist absolut meisterhaft gespielt, ein unübertroffenes Juwel der Bach-Aufführung von zeitloser Größe im freien Fluss zu wahrer innerer Größe sich entfaltender Schlichtheit. Im selben Jahr gibt es auch ein umwerfend brillantes Album von Konzerten für die linke Hand mit dem Boston Symphony Orchestra unter Seiji Ozawa: das Ravel-Konzert, Prokofieffs Viertes Konzert und Brittens Diversions. Die Kammermusik von Franz Schmidt und Korngold, die er dann aufnimmt, ist zwar unter Mitwirkung von Musikern wie Joseph Silverstein oder Jaime Laredo höchst vortrefflich gespielt, doch sind beide bei aller kompositorischen Raffinesse keine allzu großen Meisterwerke.

In Stuttgart hat Leon Fleisher 2008 mit dem Stuttgarter Kammerorchester dann endlich wieder beidhändig aufgenommen – wundervollen Mozart: das A-Dur-Konzert KV 414, das Konzert für drei Klaviere in Mozarts Fassung für zwei Pianisten (mit Katherine Jacobson Fleisher), und das große A-Dur-Konzert KV 488. Diese schöne Edition ist ein wahrhaft lohnendes, großes künstlerisches Vermächtnis.

Gary Graffman – The Complete Album Collection. Sony Classical (24 CDs)
Leon Fleisher – The Complete Album Collection. Sony Classical (23 CDs)

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