„Stuttgart Ballet Miracle“ schreibt der berühmte Kritiker Clive Barnes 1969 nach dem ersten Gastspiel der Stuttgarter Companie an der Metropolitan Opera unter ihrem charismatischen Leiter John Cranko in der New York Times. Seine Ballerina Marcia Haydée wird gar als „Callas des Tanzes“ tituliert. Cranko gelang die Entwicklung seiner Tänzer*innen von der Provinz aus zu einem weltweit beachteten Ensemble.
Bewegt und Bewegend
Regisseur Joachim A. Lang will mit seinem Spielfilm „Cranko“ nicht einfach eine Biographie nacherzählen. Vielmehr interessiert ihn, wie es Cranko geschafft hat, seine Tänzer*innen zu formen, wie die Choreografien entstanden sind – und letztlich zu verstehen: Wer war der 46-jährig viel zu früh verstorbene John Cranko?
In Stuttgart beginnt 1960 für Cranko (kongenial dargestellt von Sam Riley) ein neuer beruflicher Abschnitt. Nach seiner Diskriminierung wegen Homosexualität und daraus folgendem Arbeitsverbot in London, nimmt er am dortigen Theater zunächst das Angebot als Choreograf an. Generalintendant Walter Erich Schäfer (Hanns Zischler) und der Vorsitzende der Noverre-Gesellschaft Fritz Höver (Lucas Gregorowicz) erkennen früh Crankos Begabung für die Weiterentwicklung der Sparte Tanz in die Moderne. Schon bald nach seinen ersten Arbeiten wird ihm der Posten des Ballettdirektors angeboten. Präzise und sensibel nimmt Joachim A. Lang seine Zuschauer nun mit in die Stuttgarter Compagnie. Er zeigt die Probensituation: Cranko, der von seinen Tänzer:innen fordert: „Diese Schritte sind nicht einfach Choreografien, das ist eine Konversation! Wenn die Tänzer nicht verstehen, was sie tanzen, dann versteht es das Publikum auch nicht.“ Er vermittelt, dass für ihn nicht die Technik im Vordergrund steht, sondern dass jeder Schritt, jede Drehung, jeder Sprung mit emotionalem Inhalt und Ausdruck gefüllt sein sollten. Lang zeigt uns einen Cranko, der genau um die Beziehung seiner Künstler auf der Bühne zum Publikum, dass touchiert und in Bann gezogen werden soll, weiß. Starsolist Richard Cragun (Martí Paixà) nennt ihn einen „Menschenformer“.
Bei den Reibereien mit Schäfer, als es um die Besetzung der neuen Ballerina, die noch unbekannte Marcia Haydée geht, zeigt Lang einen zur Kündigung bereiten Cranko, der nicht nachgibt, um sein Ziel zu erreichen. Nach und nach entsteht seine „Künstlerfamilie“, mit der er nicht nur den Probenraum und die Kantine teilt, sondern auch sein Privatleben. Seine Familie, allen voran Haydée (Elisa Badenes), fängt ihn immer wieder auf, wenn er durch Alkoholexzesse, Depressionen und Verlustängste in den Abgrund sieht. Dabei desavouiert Lang seinen Hauptdarsteller nie. Er zeigt einen „an beiden Enden brennenden“ Künstler, der stets um das Maximum kämpft. Wir erleben mit, wie gründlich er Partituren studiert und fast manisch immer wieder die gleiche Sequenz einer Symphonie anhört, bis schließlich Ideen für die choreografische Umsetzung entstehen. Die Kamera fokussiert dann in seine Pupillen, in denen sich die Tänzer spiegeln. Es ist ein Glücksfall, dass Lang für die Darstellung der Tänzer:innen neben Badenes und Paixà Rocio Aleman (Birgit Keil), Jason Reilly (Ray Barra), Friedemann Vogel (Heinz Clauss) sowie Henrik Erikson (Egon Madsen) gewinnen konnte. So gelingt ihm zudem ein authentischer Ballettfilm, der uns nicht nur in die Zeit der 60er Jahre eintauchen lässt, sondern auch die Fortführung durch heutige Solisten zeigt. Dadurch lässt er den Kinozuschauer miterleben, wie singulär und zugleich zeitlos die Choreografien Crankos sind, wie präzise er bei den Proben gearbeitet und wie er junge Talente auch außerhalb des Tanzes gefördert hat wie z.B. Jürgen Rose (Louis Nitsche). Die Tanzszenen sind überzeugend echt mit der Kamera eingefangen und berühren. Die Ausschnitte aus den Handlungsballetten lassen die emotionale Wucht der Darstellung erahnen. Das wird auch durch die Filmausstattung unterstützt. Mit viel Detailliebe sind die Stuttgarter Situation im Theater, seine Wohnung oder die griechische Kneipe, in der sich alle immer wieder treffen, nachgebaut und fangen damit die Atmosphäre des Zeitgeistes genau ein, ergänzt durch Originalfilmausschnitte der Gastspiele.
Berührend ist Lang die Schlussszene gelungen: Am echten Grab von Cranko treffen sich die ehemaligen Mitglieder seiner Companie mit den jeweiligen Darstellern im Film, legen eine Rose ab und auf einer Wiese dahinter tanzen dazu Crankos Hauptfiguren. Cranko ist über 50 Jahre tot, doch das „Wunder von Stuttgart“ strahlt weiter. Nach dem Film werden nicht nur Ballettfreunde in den aktuellen Theaterspielplänen nach Cranko-Choreografien suchen, um die Besonderheit einer seiner getanzten „Geschichten“ mitzuerleben.
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