Bizets Erfolgsoper, das urmenschliche Drama von Liebe, Leidenschaft, Hass, Eifersucht, Verzweiflung, Gewalt und Tod findet in immer neuen Formen auf die Bühne und in den Film: 1915 war Geraldine Farrar Cecil B. Demilles Carmen, 1954 Dorothy Dandridge mit Harry Belafonte als Don José in Otto Premingers „Carmen Jones“, 1983 drehte Jean-Luc Godard sein skandalöses „Prénom Carmen“ und Carlos Saura seinen begeisternden Tanzfilm, ein Jahr später schuf Francesco Rosi mit Julia Migenes und Placido Domingo eine großartige Filmfassung; heute gibt es auf DVD und Video viele Mitschnitte bekannter Operninszenierungen.
Zwei Neuproduktionen versuchen, das Carmen-Drama neu zu vermitteln. Mark Dornford-May verlegt mit „U-Carmen e-Khayelitsha“ (Vertrieb: MFA) die Handlung in ein Township bei Kapstadt: Carmen, Pauline Malefante, ist eine dralle Schwarze, ihr Lover Jongikhya ein Polizist, Escamillo wird zum Schlagersänger Lulamile Nkomo, die Schmuggler kommen übers Wasser. Der bekannte Handlungsfaden bleibt erhalten, alle wichtigen Arien sind zu hören, doch gesungen wird in Xhosa, der Landessprache, mit deutschen Untertiteln, nicht unbedingt ein großes Opernerlebnis. Der Verdienst des Films liegt indessen in der Tatsache, dass er überhaupt entstand – Interviews auf der DVD lassen erkennen, welche immensen Probleme zu überwinden waren. Da verzeiht man manche übertriebene Szenengestaltung, auch hektische Fahrten durch die Slums, Vermischung von Bizets Melodien mit Volksgesängen und -tänzen, genießt großartige Luftaufnahmen und Landschaftsbilder und versteht auch, warum dieser mutige Film auf der letzten Berlinale einen „Goldenen Bären“ bekam.
Der amerikanische Tanzfilm „The Car Man“ (Warner) ist da von anderem Kaliber. Rodion Schtschedrin hat schon 1967 Bizets Musik zu einem neuen Ballett verarbeitet. Der britische Choreograph, Regisseur und Produzent Matthew Bourne, bekannt geworden mit irritierenden Versionen der Ballett-Klassiker „Nussknacker“ und „Schwanensee“, beweist mit seinem neuen Film, dass man Bizets Ohrwurm-Musik auch einem getanzten Krimi unterlegen und damit alle emotionalen Schleusen öffnen kann.
Die Story spielt in den 60er-Jahren in Harmony, einem fiktiven kleinen USA-Städtchen mit italienischen Einwanderern, irgendwo im heißen Süden. Dino, der schlampige Werkstattbesitzer, sucht einen neuen Automechaniker und engagiert Luca, einen vorbeikommenden Macho-Streuner, der viril und sexy alle Gefühle der Dorfbewohner aufwühlt und durcheinanderwirbelt. Ihm verfällt Lana, Dinos gelangweilte Frau, doch auch im braven Angelo – er ist Ritas (Lanas Schwester) friedlich gesinnter Freund – weckt er bisher ungeahnte homophile Sehnsüchte. Lucas protzige und gewalttätige Männlichkeit zieht jeden in ihren Bann, es verlieren sich allmählich alle Hemmungen: als atemberaubendes Tanzstück – in einer hinreißenden Mischung aus klassischem Ballett, Modern Dance und Broadway-Show choreographiert – wirbeln Bizets Carmen-Melodien in Schtschedrins instrumentaler Verfremdung, zusätzlich von Terry Davies bearbeitet, Menschen und Gefühle durcheinander: Gewalt, Sexualität. Leidenschaft und schrankenlose Lebensgier brechen aus, die Gefühle kochen und dampfen. Heiße Emotionen explodieren, Exzess beherrscht die Szene. Blut fließt, Dino wird erschlagen und ein unschuldiger Angelo wird verhaftet.
Wunderschöne lyrische Passagen unterbrechen immer wieder das hektische Geschehen: Angelo und Lana verlieren sich – jeder für sich – nach wilder Vereinigung geschmeidig und mit großartigem Körpereinsatz in intimen Sehnsuchtsfantasien, die um Luca kreisen; im Gefängnis tanzt Angelo in qualvollen Bewegungen ergreifend die schicksalhafte Kartenarie aus dem 3. Akt der Bizet-Oper, kontraststark zur Unschuld Ritas, Bizets Opern-Micaela, deren Liebe zerstört wird. Denn Rache fordert ihr Opfer. Am Ende hinterlässt Luca ein Chaos von Schuld, Verrat, Verzweiflung und Resignation. Dies alles wirbelt in großartig choreographiertem Tanz über die sparsam ausgestattete Bühne und zieht den Zuschauer ebenso in Bann wie die Besucher der vielen Vorstellungen in England und Übersee, stets monatelang ausverkauft. In Schtschedrin-Davies‘ Carmen-Musik erklingen Marimba und Vibraphon; im Torero-Lied – die ganze Werkstatt-Mannschaft duscht dazu, Körper glänzen, Haut blitzt auf – verstummt die Melodie, nur noch die drohend-dunkle Begleitung aus der letzten Opernszene bleibt: es verblüfft, wie gut Bizets „spanische“ Melodien zu diesen Szenen passen. Kameraführung und Lichteffekte verstärken noch die Faszination. Die DVD – untertitelt in vier Sprachen – enthält ein aufschlussreiches Interview mit Matthew Bourne zu dieser Produktion. „The Car Man“ ist eine mit filmischen Mitteln bezwingend eingefangene Ballett-Produktion als rasante Tour de force des Tanztheaters.