Beim Konzert oder auf der Opernbühne, als Film oder Video haben manche Werke der klassischen Moderne durchaus spektakuläre Resonanz gehabt. Nur im Audioformat, also via Langspielplatte oder Compact Disc ohne visuelle Unterstützung fürs Ohr, sind für die Musik des 20. Jahrhunderts nur wenige Bestseller wie etwa der Bolero von Maurice Ravel zu verzeichnen. Die Hörgewohnheiten werden immer noch vom angeblich angenehmen klassischen Standardrepertoire und vom Glamour einiger Stars dominiert. Auf die Stilrichtungen kommt es an, um das Publikum für Moderne Musik zu interessieren, meinen Per Hauber (Product Management) und Martin Torp (Texte und Kompilation). Sie haben aus den Katalogen hauseigener Labels fünfzig Aufnahmen mit primär hörerfreundlicher Musik der Moderne – MoMu – ausgewählt und Hans-Dieter Grünefeld die Funktion dieser Reihe erläutert.
: In Ihrem Kommentar zum MoMu-Sampler ist zu lesen, dass auch die Klassische Moderne mehrheitsfähig sein kann. Was bedeutet das?
Martin Torp: In Deutschland wird die Musik des 20. Jahrhunderts vielfach noch immer verzerrt wahrgenommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich, als legitime Reaktion auf die Verfolgungen „Entarteter Musik“, das Zwölftonsystem von Arnold Schönberg sowie Kompositionsmethoden seiner Nachfolger und Apologeten. Verdrängt wurden aber jene Komponisten, welche die Tradition weiter- entwickelten. So verengte sich das öffentlich wahrgenommene Spektrum der Moderne. Die als maßgeblich propagierten Werke erschienen vielen Klassikinteressierten aber als zu kopflastig oder gar wie Geheimsprachen, die nur Eingeweihte entziffern können. Verkürzt und provokativ gesagt ist die Neue Musik nach 1950 in Deutschland in eine Sackgasse geraten. Wir versuchen, diese Schieflage auszugleichen, indem wir Repertoire vorstellen, das noch relativ unbekannt ist, aber das Potential hat, die leider immer noch weit verbreiteten Vorurteile des Publikums gegenüber der musikalischen Moderne abzubauen. Wir halten die Werke der MoMu-Auswahl nicht zuletzt aufgrund ihrer ansprechenden Sinnlichkeit, Allgemeinverständlichkeit und ihrer hohen künstlerischen Qualität für potentiell mehrheitsfähig.
: Welche Komponisten waren für Sie relevant?
Martin Torp: Im Prinzip alle, die in ihren Werken Harmonie, Melodie und Rhythmus als wesentliche Elemente nicht verleugnen und dennoch zeitgemäß und anspruchsvoll sind. Dabei galt zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Komponisten besondere Aufmerksamkeit. Das Spektrum der MoMu-Auswahl ist äußerst breit und vielfältig. Berücksichtigt wurde beispielsweise Musik der noch stark spätromantisch geprägten Frühmoderne wie die Psalmvertonungen von Lili Boulanger oder die Werke Rudi Stephans. Mit Pavel Haas, Viktor Ullmann oder Eduard Erdmann sind freitonale Komponisten vertreten. Andere wie Heino Eller repräsentieren den so genannten Neoklassizismus. Dann fanden auch stilpluralistische Werke wie Hans Werner Henzes Ballett „Undine“ Berücksichtigung, ferner der Minimalismus eines Steve Reich oder Hans Otte. Und schließlich wurden mit Collin McPhee und anderen auch Pioniere einer „Neuen Weltmusik“ in die MoMu-Auswahl aufgenommen
: Das Klangprofil vieler Werke beschreiben Sie als „farbenprächtig“. Warum ist das eine positive Eigenschaft, und wie hat sie Einfluss auf das Hörbewusstsein?
Martin Torp: Attribute wie „farbenprächtig“ beziehen sich primär auf die Harmonik der ausgewählten Werke. Synästhesie ist ja ein bekanntes Phänomen, da gibt es auch viele Analogien zur Bildenden Kunst, insbesondere zur MoMA-Ausstellung in Berlin. Außerdem deuten diese Attribute auf sinnliche und emotionale Qualitäten hin. Zwölftonmusik wird zumeist mit Grau assoziiert, weil sich die Klänge darin durch gleichmäßige Verteilung in ihren Farbwerten nivellieren. Tonale oder erweitert tonale Harmonik wirkt dagegen farbiger und erreicht meist auch größere Vielfalt und Tiefe hinsichtlich des seelischen Erlebens
: Inwieweit ist die MoMu-Reihe repräsentativ oder typisch?
: Wir erheben keinen Anspruch auf einen Werkkanon. Für uns war wichtig, verdrängte Musik zu entdecken. Wir haben bei Universal nicht nur Anna Netrebko oder Luciano Pavarotti, sondern auch andere Kapazitäten in den Katalogen aus der 100-jährigen Geschichte der Deutschen Grammophon und anderer Labels wie Decca, Argo, Point, Accord und Koch, den wir vor zwei Jahren übernommen haben. Für uns war das Repertoire entscheidend, nämlich dass die Musik hörerfreundlich und unbekannt sein sollte. Nach der Sichtung der Kataloge haben wir eine Liste mit 300 CDs gemacht, die für das MoMu-Projekt interessant sein könnten. Dazu haben wir in Archiven recherchiert; manche CDs mussten nachproduziert werden.
In einer ersten Tranche kommen 50 CDs auf den Markt, die einzeln verkauft werden und in einem Katalog zum Sampler auf 64 Seiten ausführlich dargestellt sind. Weitere Veröffentlichungen sind geplant. Der Sampler soll für Händler und Kunden mit etwa 40 Werkausschnitten auf 2 CDs zum Preis von 10 Euro eine erste Orientierung sein.
MoMu. Meisterwerke des 20. Jahrhunderts
Ausgewählte Aufnahmen hörerfreundlicher Musik der Moderne
Universal Classics 476 742 3 (2 CDs)