Die Premiere der Nadeltonfassung von Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ vor 85 Jahren liefert in diesem Jahr den Anlass für eine neue Publikation über den Filmkomponisten Edmund Meisel und eine Filmretrospektive im Filmmuseum München. Als Bonus gewissermaßen gibt es diese „Wiener Fassung“ (wie sie jetzt genannt wird) endlich auch in der „Edition Filmmuseum“ auf DVD.
Edmund Meisel gilt inzwischen als der wichtigste deutschsprachige Filmkomponist der späten Stummfilmzeit. Ein Mann, der in seiner Zeit freilich auch sehr umstritten war. Es war Werner Sudendorf – der spätere Leiter der Marlene Dietrich Collection Berlin, der 1984 einen ersten Versuch unternahm, sein Werk zu würdigen. Es war vermutlich die erste ernstzunehmende Monografie über einen deutschen Filmkomponisten überhaupt. Bücher über weitere Pioniere wie Friedrich Hollaender oder Werner Richard Heymann standen noch in den Sternen. Und die deutsche Filmmusikforschung steckte noch in den Kinderschuhen. Und wäre nicht 1969 bei Suhrkamp das Adorno/Eisler-Buch „Komposition für den Film“ erschienen, hätte vermutlich der ganze Themenkomplex „Sound & Vision“ weiterhin ein komplettes Schattendasein geführt. Das alles mag einem im Kopf herumspuken, wenn man in der neuen Publikation „Potemkin - Meisel“ blättert, die in der Reihe „Maske und Kothurn“ im Böhlau-Verlag erschienen ist.
Adorno/Eisler schreiben über den einstigen Bühnenmusiker der linken Piscator-Bühne und „Panzerkreuzer“-Komponisten: „Meisel war ein bescheidenes Kompositionstalent und die Partitur gewiss kein Meisterwerk.“ Wenn man will, kann man dieses Verdikt als „Todesurteil“ über den Filmmusikpionier lesen. Wenn das in der damaligen „Bibel“ stand, muss man sich mit diesem „bescheidenen Kompositionstalent“ nicht mehr weiter beschäftigen. Und so hat es dann ja auch gedauert, bis endlich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Werk des Eisenstein-Hauskomponisten stattgefunden hat, ausgelöst von der Sudendorf-Monografie, wie Fiona Ford, die auch eine gründliche Analyse des „Potemkin“-Scores liefert, in ihrem neuen Buch „Meisel – A Biographical Survey“, anmerkt.
Als Herausgeber dieses neuen Buches haben Martin Reinhart und Thomas Tode nun die Meisel-Geschichte weitergeschrieben. Anlass ist die so genannte „Wiener Fassung“ des „Panzerkreuzer Potemkin“. Vier Jahre nach der Stummfilmfassung ist dieser „tönende Potemkin“ 1930 in die deutschen Kinos gekommen. Zu einer Zeit also, als sich der Tonfilm in Deutschland gerade durchzusetzen begann. Filme wie Duponts „Atlantic“, Sternbergs „Der blaue Engel“ oder die Tonfilmoperetten hatten die Standards gesetzt für diesen neuen Mix aus „Sound & Vision“. Und die Tonspur war plötzlich gleichberechtigt mit dem Bild geworden. Wer also einen Stummfilm nochmals ins Kino bringen wollte, musste jetzt also auch einen neuen Soundtrack dazu liefern. Und das tat Edmund Meisel, der bereits 1926 die Kinomusik für den „Berliner Potemkin“ komponiert hatte.
Während die Originalpartitur überlebt hat, galt die neue Tonspur als verschollen. Bis sie in den frühen Nuller-Jahren von Martin Reinhart im Technischen Museum in Wien wiederentdeckt wurde. Als Kurator der Abteilung „medien.welten“ ist er damals auf einen merkwürdigen Katalogeintrag gestoßen: „Nadeltonplatte Potemkin“. Bald war klar, er hatte den verschollenen Soundtrack zum „Potemkin“ entdeckt. „Über die Provenienz der Schellackplatten ist nichts bekannt“, schreibt Reinhart in seinem kompakten Beitrag über die überlieferten „131 Minuten Meisel“: „Es ist aber offensichtlich, dass sie ihren Weg in die Sammlung des Technischen Museums als Belegexemplare einer obsoleten Technologie und nicht als ein Stück ‚Weltkulturerbe‘ gefunden haben.“ Und dann beschreibt er seinen ersten Höreindruck: „Was uns schon beim Anhören der Platten und noch ganz ohne die dazugehörigen Bilder fasziniert hat, war die Fremdartigkeit des Gehörten. Die rezitierende Art zu sprechen, die comichaften Geräuscheffekte, die Disharmonien und brutalen Rhythmen – all das schien weder in unsere Zeit zu passen, noch etwas mit den bekannten Rekonstruktionsversuchen der Musik zu tun zu haben.“ In der kürzeren „Wiener Fassung“ wirke der Film nun für ihn viel moderner. Als diese Version im März im Österreichischen Filmmuseum seine Wiener Premiere feierte, war das Publikum so begeistert, dass Zusatzvorstellungen angesetzt werden mussten.
Wer übrigens glaubt, dass mit dieser „Wiener Fassung“ das „Original“ trotz allem entweiht wird, der sei darauf verwiesen, dass es sehr viele Fassungen dieses Meisterwerks gibt, die Tode und Reinhart in einem Überblick zusammengestellt haben, unter dem treffenden Titel „Potemkin–Matrjoschka“. Alle zeitgenössischen Versionen sind von den Nazis 1933 beschlagnahmt worden. Meisel selbst hat diesen Akt nicht mehr miterlebt, er war bereits im November 1930 gestorben, nachdem er mit der Lewis Ruth Band in einer 14-Stunden-Session die Musik für seinen letzten Film eingespielt hatte – „Der blaue Express“.