„Es fasziniert mich so, mir die Gegend mit den Ohren anzusehen“, sagte Wolfgang Fasser einmal. „Je länger ich höre, desto schärfer wird für mich das Bild.“ Der gelernte Physiotherapeut, der vor vielen Jahren seine gut laufende Praxis in Zürich aufgegeben hat, um sich in ein kleines toskanisches Bergdorf zurückzuziehen und dort mit schwerbehinderten Kindern zu arbeiten, war nicht immer blind. Ebenso wie zwei seiner Geschwister litt er schon als Kind an der unheilbaren Krankheit Retina pigmentosa, die seine Fähigkeit zu sehen bereits damals einschränkte. Mit 22 erblindete Fasser endgültig.
Heute ist er, wie er sagt, „ein Gastgeber von Klängen“. Seine Gäste sind Kinder, die an einer so schweren geistigen oder körperlichen Behinderung leiden, dass bisher niemand ihnen wirklich helfen konnte, in der Welt zurechtzukommen. Als ersten lernen wir den kleinen Andrea kennen. Wir sehen ihn mit Fasser zusammen auf dem Rücksitz eines Autos. Sie fahren zum Haus des Therapeuten, das abseits inmitten der Natur liegt. Andrea, ein geistig behinderter Junge von etwa neun oder zehn Jahren, der große Schwierigkeiten mit der Aussprache einfachster Wörter hat, zeigt gleich zu Beginn eine enorme Empfindlichkeit gegenüber Klängen. Als die Türklingel ertönt, erleidet er einen Angstanfall – ein Ereignis, das sich bei anderer Gelegenheit wiederholt, als er zum ersten Mal die markanten Töne eines Akkordeons hört.
Im Laufe des Films werden wir Andrea noch ein paarmal begegnen und erleben, wie er nicht nur seine Furcht vor neuen Klängen verliert, sondern zunehmend selbstbewusst agiert und lernt, sich verbal zu äußern. „Soll ich es dir in die Hand sprechen?“, fragt der Therapeut ihn bei einer ihrer zahlreichen Sprechübungen. Ein anderes Mal scheinen beide eine kindliche Freude zu haben, als Andrea spielerisch ihre Rollen vertauscht und nun seinerseits Worte bildet, die Fasser ihm nachsprechen soll. Andere Kinder und Jugendliche treten auf, wie der autistische, ungestüme Ermanno, der unter Fassers Einfluss allmählich beginnt, eine weniger zerstörerische Beziehung zu Dingen und Menschen zu entwickeln. Dann die körperlich schwerbehinderte Jenny, die tanzt, als wir sie zum ersten Mal sehen, und dabei eine Augenbinde trägt. Diese soll ihr, wie der Therapeut erklärt, helfen, ihren Körper besser zu spüren. Durch Fassers Therapie hat sie gelernt, selbstständig zu laufen und wird am Ende des Films sogar in der Lage sein, zusammen mit ihren Freundinnen im Zug zur Schule zu fahren.
Jennys Mutter erklärt, auch sie selbst habe durch Fasser erst gelernt, ihre Tochter loszulassen. Und der Therapeut selbst sagt ganz schlicht, er wolle „den Kindern helfen, herauszufinden, wer sie sind“. Ein ums andere Mal sieht man ihn draußen in der Natur, allein mit seinem Hund, und oft mit einem Aufnahmegerät. Die Laute der Natur, erklärt er später, seien oft jenen Anfangslauten ähnlich, die die Kinder von sich gäben, wenn sie zu ihm kommen. Sogar das rhythmische Klopfen des autistischen Ermanno fände sich in der Natur wieder. Durch die Audio-Aufnahmen versetzt er die Kinder in eine gleichsam vertraute Klangumgebung, was bewirkt, dass sie sich mit ihren einfachen Lautäußerungen angenommen und als Teil eines Ganzen fühlen.
Einmal sieht man Fasser ins Dorf gehen, wo er gleich von zahlreichen Menschen angesprochen wird. Einer leidet unter Durchfall, einem anderen verspricht er Hilfe gegen seinen Ischias, einer älteren Dame gegen Nackenschmerzen. Und eines der wunderbaren Dinge an diesem Film ist es, dass er niemals der Versuchung unterliegt, Fasser als Phänomen zu zeigen, als Wunderheiler, der mit gleichsam magischen Kräften durchs Leben geht. Wolfgang Fasser heilt weder durch Handauflegen noch durch einen magischen Funken. Wir sehen einen bedächtigen Mann, der den Kindern, die zu ihm kommen, Zeit und Raum gibt, sich als Person zu entdecken – und das heißt zunächst: als Körper und als Stimme.
Am Ende erfahren wir dann noch, fast nebenbei, dass der Gastgeber der Klänge bereits beginnt, schwerhörig zu werden. Doch kein bisschen Bitterkeit ist zu spüren, als Wolfgang Fasser sein Hörgerät herzeigt und betont, wie dankbar er sei, es zu haben. Auf die Welt der Klänge zu verzichten, das hieße ja auch, wird einem klar, wenn man diesen Film erst so recht verinnerlicht hat, zum Leben in all seiner Vielfalt keinen direkten Zugang mehr zu haben. Denn dass die Welt Klang ist, das teilt sich nicht zuletzt durch die grandiose Tonspur dieses Films mit. Ja, man kann und sollte ihn mit den Augen sehen. Aber vor allem sollte man sehr genau hinhören. Denn nicht zuletzt ist dies ein echter Ohrenfilm.