Als Don Alan Pennebakers schwarzweiße Dylan-Dokumentation „Don’t Look Back“ vor genau 40 Jahren, im Mai 1967, in die amerikanischen Kinos kam, herrschte Funkstille im Hause des Meisters. Nach einem mysteriösen Motorradunfall war die moderne Stimme Amerikas verstummt gewesen. Dylans letzte Schallplatte, das Meisterwerk „Blonde On Blonde“, war bereits vor einem Jahr erschienen. Genau in diese Dylan-lose Zeit platzte die „Mutter“ aller Backstage-Dokus, die nun endlich als Special Edition bei Sony BMG auf DVD erschienen ist, inklusive Outtakes und Premierenbüchlein.
Obwohl „Don’t Look Back“ während Bob Dylans letzter „akustischer“ Englandtournee im Frühling 1965 entstand, wird mit dem Film vor allen Dingen ein Song aus seiner „elektrischen“ Phase verbunden: „Subterranean Homesick Blues“. Das dazugehörende Zwei-Minuten-Filmchen, das im Film wie ein Fremdkörper wirkt, wird gerne als die Geburtsstunde des Videoclips betrachtet. Doch schon vor einiger Zeit hat Pop-Professor Diedrich Diederichsen die ganze Sache klargestellt: „Historisch ist das nicht richtig, denn der gemeinte Kurzfilm, der die Single ‚Subterranean Homesick Blues‘ visuell unterstützen sollte, war keineswegs die erste dieser Maßnahmen zur Ankurbelung des Schallplattenverkaufs während der sechziger Jahre: Er existierte ursprünglich nur als Eröffnungssequenz von Pennebakers ,Don’t Look Back‘.“
Im Audiokommentar nennt Pennebaker nun zum ersten Mal Dylans Vorbilder für diese Sequenzen: die Scopitones. Bereits seit 1939 existierten in den USA visuelle Jukeboxen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann man auch in Europa mit ähnlichen Geräten herumzuexperimentieren. So entstand Ende der Fifties in Frankreich eine Jukebox, die 36 Filme zur Auswahl anbot: Scopitone. 1965 war die Scopitone-Welle auch nach Amerika hinübergeschwappt. Als 1967 dann Pennebaker Dylans „Subterranean Homesick Blues“ als Kinotrailer verwendete, war die Zeit der Scopitones schon wieder vorbei. Auch visuell war Dylans „Blues“ natürlich sehr reizvoll. Kühn war für Diederichsen, „wie Dylan ein Prinzip des Experimentalfilms seiner Zeit aufgreift und abgefilmte Schrift ins Zentrum stellt. Der Text seines Songs wird nicht gesungen (auch wenn der Song natürlich aus dem Off erklingt), sondern durch oft fehlerhafte Schrifttafeln mit den Reimworten der jeweiligen Zeile repräsentiert, die Dylan so lange in die Kamera hält, wie seine Schallplattenstimme aus dem Off die entsprechende Zeile singt“. In einem der vielen Outtakes erklingt noch einmal der „Subterranean Homesick Blues“. Dieses Mal aus einem Kofferradio. Stolz spielt ihn Dylan seiner Entourage vor und fügt hinzu: „A Columbia Record“. Ähnlich wie Barbra Streisand ist Dylan bis heute seiner alten Plattenfirma (bis auf eine kurze Unterbrechung) treu geblieben. Heuer werden es 46 Jahre werden. Als Dylan-Manager Albert Grossman Pennebaker das Angebot machte, die Englandtournee seines Schützlings zu filmen, dachte er natürlich an einen „Promo“-Film für Columbia Records. Aber das Werk, das nur wenige Konzertausschnitte enthielt, eignete sich dann damals doch nicht so richtig zu Promo-Zwecken. Als es Pennebaker später der Filmfirma Warner-Seven Arts anbot, wurde er nur ausgelacht. Es fehle der Fokus, hieß es. Dabei hatte Pennebaker, der im Übrigen später auch für den Bayerischen Rundfunk einen sehr ähnlichen Film über Franz Josef Strauß drehte, beiläufig ein neues Genre erfunden: die Backstage-Doku. Vorher hatte es Starvehikel wie die Elvis-Filme oder Richard Lesters Beatles-Musicals gegeben. Nun war plötzlich der Blick hinter die Kulissen erlaubt. Natürlich war das ganze ein Fake – im „Direct Cinema“-Stil der Sixties. Aber man bekam doch ein Gefühl für die aufgekratzte Atmosphäre, die während dieser letzten „akustischen“ Tournee in England herrschte.
Irgendwann im Film beginnt Dylan einen alten Hank-Williams-Song anzustimmen: „Lost Highway“. Und plötzlich erklingen die Zeilen, die ihn wohl zu seinem wichtigsten Song jener Phase inspiriert haben dürften: „I’m a rolling stone, I’m alone and lost ...“ Mit dem elektrischen „Like A Rolling Stone“ wird Dylan wenige Monate später Pop-Geschichte schreiben. Es wird sein größter US-Hit werden. Später im Film glaube ich dann sogar, der Geburt dieses Jahrhundertsongs beizuwohnen. Wieder mal sitzt Dylan fast abwesend an einem verstimmten Klavier und hämmert darauf los – und irgendwie klingt es für mich schon wie „Like A Rolling Stone“, das er nach dieser England-Tournee schreiben wird. Aber das könnte auch nur Einbildung sein – und so versuche ich, einen anderen Ohrenzeugen zu finden. Nach langem Suchen in meiner Dylan-Bibliothek finde ich tatsächlich einen weiteren Zeugen, der meinen Eindruck bestätigt, den Dylan-Forscher Paul Williams. Auch für ihn kündigt sich „Like A Rolling Stone“ an, „als Dylan irgendwo in England an einem Klavier hinter der Bühne sitzt und voller Energie darauf improvisiert. In den aufsteigenden Akkorden, die Dylan ganz am Anfang dieses Backstage-Solos spielt, kann man das grundlegende Muster hören, das die Basis der Refrainmelodie und die wiederkehrende harmonische Figur in ‚Like A Rolling Stone‘ darstellen wird. Der Film hat hier das Wunder künstlerischen Schaffens eingefangen: Ein großes Werk taucht langsam aus dem Unterbewusstsein des Künstlers auf und beginnt in der materiellen Welt Gestalt anzunehmen – man bekommt richtig Gänsehaut beim Zusehen.“