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Ein Start mit Haken

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EMI startet seine neue Debüt-Serie
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Diskographie Thomas Adès: Catch, Darknesse Visible, Still Sorrowing, Under Hamelin Hill, Five Eliot Landscapes, Traced Overhead, Life Story; Thomas Adès, Klavier; Valdine Anderson, Sopran; Mary Carewe, Sopran; Lynsey Marsh, Klarinette; Anthony Marwood, Violine; Louise Hopkins, Violoncello; Thomas Adès, David Goode, Stephen Farr, Orgel; EMI 5 69699 2 Johann Sebastian Bach: Cembalowerke; Richard Egarr, Cembalo; EMI 5 69700 2. Frédéric Chopin: Klaviersonate Nr. 3, Polonaise-Fantaisie op.61, Nocturne op.48 Nr.1, Scherzo Nr. 4, Barcarolle, Ballade Nr. 4; Nelson Goerner, Klavier; EMI 5 69701 2. Wolfgang Amadeus Mozart: Flötenquartett KV 285, Oboenquartett KV 370, Klarinettenquintett KV 581; Brindisi Quartet; Jaime Martin, Flöte; Jonathan Kelly, Oboe; Nicholas Carpenter, Klarinette; EMI 5 69702 2. Giovanni Pierluigi da Palestrina: Motetten: „Assumpta Est Maria“, „Ave Maria“, „Regina Coeli“, „Hodie Gloriosa Semper Virgo Maria“, Missa „Assumpta Est Maria“, Magnificat Septimi Toni; Choir of Clare College Cambridge, Timothy Brown; EMI 5 697 03 2. Johann Strauß (Sohn): Bearbeitungen von Max Reger, Alfred Grünfeld, Edward Schutt, Karol Tausig, Ignatz Friedmann, Ernö Dohnányi, Moriz Rosenthal und György Cziffra ; Konstantin Scherbakow, Klavier; EMI 5 69704 2. Igor Strawinsky: Petruschka, Tango; Modest Mussorgsky: Bilder einer Ausstellung (Bearbeitungen für zwei Akkordeons); James Crabb, Geir Draugsvoll, Akkordeon; EMI 5 69705 2. Lieder von Bellini, Verdi, Respighi, Rossini, Donizetti, Wolf-Ferrari; Rebecca Evans, Sopran; Michael Pollock, Klavier; EMI 5 69706 2. „Steal Away“ · Spirituals & Gospel Songs: „Oh What A Beautiful City“, „Sometimes I Feel Like A Motherless Child“, „True Religion“, „I Wanna Be Ready“, „Nobody Knows The Trouble I’ve Seen“ u.a.; Ruby Philogene, Sopran; London Adventist Chorale; EMI 5 609707 2. Mit neun CDs der sogenannten „Debüt“-Serie wurde nun der Anfang gemacht. Die Firma EMI, mit ihrer 100-Jahr-Feier aber auch mit ihrem partiellen Rückzug aus der Bundesrepublik in letzter Zeit immer wieder in die Schlagzeilen gelangt, wendet sich explizit dem künstlerischen Nachwuchs zu. „Debüt“ meint zunächst nichts mehr als die erste Veröffentlichung beim „internationalen Platten-Major“ und die damit verbundenen Surrounding-Faktoren (große aufnahmetechnische Erfahrung, Werbung, hohe Auflagemöglichkeit mit Budget-Preisen). Der Eindruck mag entstehen, daß sich die Firma gnädig hin-abneigt zu den (Noch-) Underdogs, da sie den Auftrag, in die Zukunft zu investieren, ernst nimmt. Der Major, arg bedrängt in letzter Zeit von vielen „Minors“ und solchen, die gar nicht mehr so klein sind, schlägt mit deren Waffen zurück. Am Ansehen wird gebügelt, keiner kann mehr auf die Firma zeigen mit der Behauptung, sie würde sich nur an gemachten Künstlern bereichern. Freilich mag manchem der Vergleich zu schamschützenden Dritte-Welt-Fonds im Staatshaushalt der Großkapitalländer einfallen. Doch dem Einwand mit dem Tropfen auf dem heißen Stein kann man mit dem Argument begegnen, daß viele Tropfen diesen nicht nur kühlen, sondern sogar zu höhlen vermögen. Die Zahl der Tropfen jedenfalls steht bei EMI schon fest, jährlich will man zehn Titel in der Debüt-Serie auflegen. Wie dem auch sei, letztlich zählt das Ergebnis. Im Weihrauch der obulusverteilenden Tat an sich kann man nicht allzu lange atmen. Zehn CDs pro Jahr sind weit davon entfernt, repräsentativ oder gar flächendeckend zu wirken. Kritische Sichtung im Vorfeld durch die Plattenfirma ist unabdingbar, in der Wahl spiegelt sich die Firmenästhetik. Und da muß man konstatieren, daß man bei der Festlegung auf die ersten neun Veröffentlichungen zumindest teilweise eine recht unsichere, wenn nicht gar unglückliche Hand bewies. Man suchte zu streuen, verschiedene Ressorts von der Renaissance bis zum Gospel oder zur Moderne abzudecken, und dennoch blieb man in vielem fatal in der Mitte stecken. Wohltuend anders wirkt hier im Vergleich etwa die „Primavera“-Reihe des Deutschen Musikrates (mit Preisträgern des Deutschen Musikwettbewerbs, jetzt bei „Ars Musici“ verlegt), wo dem jungen Künstler wirklich die Möglichkeit eines interpretatorischen Selbstporträts geboten wird, was zu einer weit individuelleren und profilbetonteren Streuung führt. Die „Debüt“-Folge bei EMI jedenfalls wird sich, zumindest was die ersten neun CDs betrifft, den Vorwurf gefallen lassen müssen, allzusehr in Regionen nivellierter Verwaschenheit hängen geblieben zu sein. Wenig Aufsehenerregendes vermag man zum Beispiel in der Spiritual&-Gospel-CD „Steal Away“ mit Ruby Philogene und dem London Adventist Chorale zu entdecken. Alles wirkt wie aus zweiter Hand, die Bearbeitungen sind geschönt und geglättet, es entsteht eine fragwürdige Haltung, die nicht die tiefschwarzen Resonanzen dieser Musik kennt – Gospels für das Wohn – oder Schlafzimmer, die nicht mehr um die widerständige Haltung der Gesänge wissen. Es ist lackierte Musik mit schiefsitzendem Pathos. Weitgehend brav wirkt auch etwa die CD mit dem Brindisi Quartet, das zusammen mit dem Flötisten Jaime Martin, dem Oboisten Jonathan Kelly und dem Klarinettisten Nicholas Carpenter Mozarts Flöten- und Oboenquartett KV 285 bzw. 370, sowie das Klarinettenquintett einspielen. Zwar vermag das Brindisi Quartet durch behutsam abgestuften Ton einigermaßen zu überzeugen, doch eine auch nur in Ansätzen aufsehenerregende Sicht auf Mozart mag nicht gelingen. Die gewaltigen Dimensionen der dialogisierenden Strukturen Mozarts bleiben auf der Strecke, das Spiel der Gesten, der energetischen Bewegungspotentiale. Am meisten mag noch der Fluß der langsamen Sätze zu überzeugen, doch die Tiefendimension des großartigen Klarinettenquintetts, das strömende Klangwunder verbleibt zu neutral, zu wenig hintergründig. Eine beherzt differenzierte Agogik wird schmerzlich vermißt. Wo bleiben der Mut, das Aufbegehren der Jugend? Wie kühn auflehnend beginnt zum Beispiel Chopins h-Moll-Sonate, nach befreienden Licht- und Farbwerten strebend. Der argentinische Pianist Nelson Goerner besitzt zwar eine profunde, wenn auch nicht überwältigende Technik, aber sein Spiel wirkt fast gehemmt und zurückgenommen ohne andererseits zu den subtilen Abstufungen vorzustoßen, die etwa ein Rubinstein oder ein Lipatti hervorarbeiteten. Die Erregtheit des Scherzo bleibt merkwürdig ungestört, fast wie eine Fingerübung, und vermag so kaum ein Pendant zum sanft nach innen wirkenden Mittelteil des Satzes bilden. Vergleichbares ließe sich auch zum Bachspiel des Cembalisten Richard Egarr sagen. Es hat trotz seiner Artikulationsweite und Genauigkeit der Gestaltung immer etwas sehr Artiges. So sehr man sich oft über effekthaftes Spiel um jeden Preis ärgern muß, das mehr der Sensation als dem Innenleben der Musik nachgeht, so sehr vermißt man hier einen spezifischen Zugang zur Musik. Immerhin entschädigt Egarr durch Logik und Ruhe der formalen Gestaltung, durch die architektonische Durchlebtheit des musikalischen Flusses. Freilich bietet das Startprogramm der Debüt-Reihe auch Ausgefalleneres. Eher als Kuriosum muß man hier die Bearbeitungen von Strawinskys „Petruschka“ und Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ für zwei Akkordeons betrachten. Bei Strawinsky stellt sich sogar eine gewisse Kohärenz ein, hat er doch manche Melodie für dieses Werk gleichsam von der Straße aufgesammelt. Die ansprechende Akkordeon-Bearbeitung führt das Stück so auf seine Wurzeln zurück – und es klingt! Die Mussorgsky-Bearbeitung hingegen wirkt nur noch seltsam: Musik, die auf Krücken schnell zu laufen versucht und sich im eigenen Anspruch verheddert. James Crabb und Geir Draugsvoll mühen sich redlich und halten Stand. Schmunzeln ist eine mögliche Reaktion. In eine Repertoirelücke stößt die Sopranistin Rebecca Evans mit Liedern von Bellini, Verdi, Respighi, Rossini, Donizetti und Wolf-Ferrari vor. Der Leichtigkeit und Eleganz dieser Musik setzt sie eine flexible und leichte Stimme gegenüber. Alles gelingt zart und duftig, der Geist der Musik wird bezaubernd charmant geweckt. Eine Interpretin, die über den Status einer Nachwuchshoffnung schon hinaus ist. Dem Reichtum britischer Renaissance-Vokaltradition fügt der Chor des Clare College Cambridge unter Timothy Brown eine weitere Facette hinzu. In halliger Atmosphäre wird sehr luzide und detailgenau gesungen, wobei die Hallwirkungen in die Interpretation einbezogen werden. Eine schöne CD, die die fruchtbare Auseinandersetzung mit der Musik von Palestrina der 25 Jahre alten Chorvereinigung eindringlich bezeugt. Eine weitere CD ist dem eigenwilligen Pianisten Konstantin Scherbakow mit diversen Bearbeitungen von Musik von Johann Strauß gewidmet. Bearbeiter von Max Reger bis György Cziffra haben sich der Walzerklänge angenommen und Scherbakow spielt die Stücke mit kühner Flexibilität und stupend leichter wie eleganter Technik. Eine Palette reizender Zugabestücke, die alle den „ganzen“ Pianisten fordern, tut sich auf. Scherbakow wahrt über alle mitunter haarsträubenden technischen Klippen hinweg den Schwung und die Biegsamkeit dieser Musik. Das Zuhören macht durchwegs Vergnügen, zumal jeder Ton sensibel kontrolliert und genau abgetönt wirkt. Individuelle Eigenwilligkeiten der Bearbeiter werden berücksichtigt. Ebenso bleibt das knüpfende Band Johann Strauß gestisch glücklich aufgehoben. Auch ein Vertreter der zeitgenössischen jungen Musik darf beim Start der Debut-Reihe nicht fehlen. Es ist der 1971 geborene Brite Thomas Adès, sieben kurze Kompositionen sind auf der CD mit immerhin 76 Minuten Dauer versammelt (übrigens sind alle Scheiben der Debut-Reihe zeitlich gut gefüllt). Adès ist ein ganz eigenwilliger, unkonventioneller und hochbegabter junger Komponist, der auch die Klavierparts auf dieser CD selbst spielt. Virtuos bewegt sich die Musik an Rändern von Bekanntem, spielt mit vertrauten Floskeln und bindet sie fein ausgehört zu einem fremdartigen Strauß zusammen. Dem Erfindungsreichtum und der Variabilität scheinen keine Grenzen gesetzt. Es bleibt abzuwarten, ob Adès auf dieser Basis in größere Tiefen vorzustoßen vermag. Dann mag das Attribut eines „neuen Britten“ in der englischen Musikszene durchaus berechtigt sein. Voraussetzungen dafür sind da.

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