Die Anspannung kann man an den Mienen aller Beteiligten ablesen: einem einigermaßen überforderten Chor, einem Orchester, das langsam aber sicher die Geduld verliert, dem ohnehin etwas freudlos wirkenden Myung-Whun Chun, der irgendwann nur noch den Kopf schüttelt, und schließlich dem Komponisten selbst. Ein wenig unsicher tritt er aus dem Hintergrund, abwägend, ob sein Eingreifen nun hilfreich sein oder zusätzliche Verunsicherung bringen könnte. Dazwischen geschnitten eine kurze Sequenz: Eine Nonne zupft die Lilien zurecht, bevor sie Arvo Pärt erlaubt, diese vor das Grab der Heiligen Cäcilia zu legen, der auch das zur Uraufführung anstehende Werk gewidmet ist: „Cecilia, vergine romana“.
Diese lange Probensequenz ist einer von drei Bonusfilmen, die Dorian Supins Porträt „24 Preludes for a fugue“ enthält, ein Porträt, das sich im durch und durch musikalischen Rhythmus aus oft nur schlaglichtartigen Episoden und Interviewausschnitten zusammenfügt. Pärt auf einem Handwerkermarkt, den Duft der Heimat aus einer Holzschachtel einatmend („Schade, dass die Kamera nicht riechen kann“), beim Versuch, Studenten sein Schlüsselwerk „Für Alina“ zu erklären („Ich wollte mich auf jeden Ton konzentrieren, sodass jeder Grashalm den Status einer Blume bekommen würde“) oder in einem Kreuzgang mit Brunnen („Der Klang ist hier so schön, könnt Ihr das aufnehmen?“). Und immer wieder Probenausschnitte, die zeigen, wie schwierig die expressive Schlichtheit seiner Musik herzustellen ist.
Mit insgesamt acht Komponisten- bzw. Werkporträts auf fünf DVDs startet „Ideale Audience“ sein neues Label „juxtapositions“, und die anderen Filme stehen nur wenig hinter der atmosphärisch so selbstverständlich gelungenen Pärt-Annäherung zurück.
Wir begleiten Philip Glass durch sein New York, lassen uns noch einmal erzählen, wie das damals so war in den Lofts, als seine Musik noch nicht in den großen Konzertsälen der Welt gespielt wurde, und erfahren von Bob Wilson etwas über die Konstruktionspläne ihrer Gemeinschaftsarbeiten.
Wir lassen uns von Luciano Berio in die Zitatverdichtungen im dritten Satz seiner „Sinfonia“ hineinführen, von Michael Gielen in die Farbwelten von Schönbergs Orchesterstücken op. 16 sowie von Reinbert de Leeuw und Robert Craft in das asketische Baukastenprinzip von Strawinskys „Symphonies pour instruments à vents“.
Diese drei Werkbetrachtungen hat der Niederländer Frank Scheffer mit gutem Gespür für die Balance zwischen erläuternden Textelementen und sinnlicher Vermittlung gedreht. Schade nur, dass die deutschen Untertitel den ein oder anderen groben Schnitzer enthalten. So entbehrt es nicht einer gewissen Absurdität, Gielens englische Kommentare zu Schönbergs Quartenakkord als „Viertelakkorde“ übersetzt zu bekommen.
Ein Ankerpunkt in Scheffers musikdokumentarischen Arbeiten ist die Musik Gustav Mahlers und ihre reiche Aufführungstradition in Amsterdam. „Conducting Mahler“, entstanden beim Mahler-Festival 1995, wagt eine sinfonische Gesamtschau, wobei freilich in einem einstündigen Film die Persönlichkeiten und Interpretationsansätze so unterschiedlicher Dirigenten wie Bernard Haitink, Simon Rattle, Claudio Abbado, Riccardo Muti und Riccardo Chailly kaum mehr als angedeutet werden können.
Ergiebiger ist da schon die auf der gleichen DVD vorgenommene Fokussierung auf Mahlers Neunte. Riccardo Chailly und Mahler-Koryphäe Henry-Louis de la Grange erweisen sich als kluge Wegweiser durch diese Summe Mahler’scher Sinfonik, deren Einspielung für Riccardo Chailly gleichzeitig den durchaus symbolischen Abschied vom Concertgebouw Orchester markierte. Am Wirkungsort Willem Mengelbergs, aus dessen Partituranmerkungen Chailly immer wieder wichtige Einsichten schöpft, durchzog die Auseinandersetzung mit dem ersten modernen Sinfoniker seine 16-jährige Tätigkeit als Chefdirigent des Orchesters wie ein roter Faden. Ihre besondere Beziehung wird in einem weiteren Film Scheffers thematisiert, „Attrazione d’Amore“. Man lernt dabei Chaillys sehr bewussten Umgang mit Aufführungstraditionen kennen, mit denen sich auseinanderzusetzen er für unabdingbar hält: „Wie soll man etwas erneuern, wenn man nicht weiß, was man erneuert?“ ist ein Kernsatz seiner Musikauffassung, die durchaus mit Berios weit mehr als nur collageartigem Umgang mit wörtlichen Musikzitaten in der Sinfonia korrespondiert. Insofern rundet die Kopplung mit dem Berio-Film „Voyage to Cythera“, der seinerseits aus den Werkporträts zu Schönberg, Strawinsky und Mahler zitieren kann, diese kleine Reihe innerhalb der Reihe aufs Schönste ab.
Diskografie
Attrazione d’amore (Riccardo Chailly, Concertgebouw Orchestra) / Voyage to Cythera (Luciano Berio, Sinfonia). Regie: Frank Scheffer, Ideale Audience 1
Conducting Mahler / I have lost touch with the world (Mahler, 9. Symphonie). Regie: Frank Scheffer, Ideale Audience 2
The Final Chorale (Igor Strawinsky) / Five Orchestral Pieces (Arnold Schönberg). Regie: Frank Scheffer, Ideale Audience 3
24 Preludes for a Fugue (Arvo Pärt). Regie: Dorian Supin, Ideale Audience 4
Looking Glass (Philip Glass). Regie: Eric Darmon, Ideale Audience 5 (Vertrieb: Naxos)