Wohl selten konnte man Backpapier so schön klingen hören wie hier, begleitet und gestützt vom Sehen, das der bemerkenswert feinen klangplastischen Erfahrung gewiss dienlich ist. Die Rede ist von Helmut Lachenmanns Orchesterwerk „Schwankungen am Rand“ und dessen Darbietung innerhalb der jüngst abgeschlossenen siebenteiligen DVD-Serie „Lachenmann Perspektiven“.
Die Filmemacherin Wiebke Pöpel verfügte für sie wie auch insgesamt in dieser Reihe nicht nur über ein exzellentes Tonaufnahmeteam und vorzügliche Ausführende. Sondern sie nutzte auch die visuelle Ebene, um die geradezu magischen Momente der Verwandlung von Alltagselementen wie diesem in orchestrale Klangerzeuger plastisch umzusetzen. Noch dazu stand ihr der blendend aufgelegte Komponist zur Seite, stets dazu in der Lage, Hörbetrachtern und Ausführenden nicht allein Reiz und Abenteuerlichkeit solcher ungewöhnlichen Elemente, sondern auch deren dramaturgische Aufgabe und ästhetische Rolle innerhalb seiner Orchesterwerke zu zeigen.
Das Backpapier trägt wie alle anderen eigenwilligen Klangerzeuger zur oft bestaunten Reichhaltigkeit von Lachenmanns Orchestermusik bei, ähnlich wie Donnerbleche, Plastiktöpfchen oder Radioeinspielungen. Aber sie alle sind keine Kuriosa, sondern filigrane und manchmal enorm energiereiche Gestaltungsfaktoren unterschiedlicher kompositorischer Situationen. Sie geraten in vielfältigste Verknüpfungen mit dem eigentlichen Kern dieser Orchestermusik, nämlich den mit herkömmlichen Instrumenten geleisteten Klangschattierungen. Gerade das machen diese Dokumentationen immer wieder eindrucksvoll klar.
Pöpel gelingt dies mit variablen Mischungen aus Gesprächs- und Musikanteilen, deren umfangreichste Komponente die Einstudierungsprozesse von neun der wichtigsten Orchesterwerke des Komponisten sind. Das Spektrum der dafür ausgewählten Mitwirkenden reicht von Gegenwarts-Spezialisten wie dem Ensemble Modern über etliche Rundfunkorchester bis zu einem spanischen Jugendorchester. Eigentlich selbstverständlich, aber doch hochinteressant ist dabei, wie unterschiedlich sich die gemeinsame Arbeit im Detail gestaltet: Während bei den Lachenmann-erfahrenen Klangkörpern sogleich auf subtilste Differenzierung des Ausdrucks und mithin auf Interpretation geachtet wird, geht es bei weniger erfahrenen zunächst einmal um die Realisierung, Entfaltung und Ausbalancierung der für manche neuartigen Klänge und Mischungen.
Besonders eindrucksvoll ist meistens die Detailarbeit in kleinen Gruppen. Da wird nicht nur Spieltechnisches jenseits des Vertrauten kenntlich, sondern auch der Nutzen präziser Schattierung. Längst emanzipierte sich Lachenmanns Musik vom früheren Klischeebild, das in der Behauptung bestand, sie wolle verstören oder gar provozieren. Sie ist zuallererst Verlockung der Aufmerksamkeit, gerät für alle Ausführenden wie für alle Hörenden, die sich auf sie einzulassen suchen, zur Klangerkundungsreise. Die DVDs sind dafür eine vortreffliche Begleitung. Ihr Nutzen reicht dabei fast stets über die Schattierung der klanglichen Seite weit hinaus: Man erlebt oder ahnt immer wieder auch die Dramaturgie des Ganzen und deren manchmal verblüffende Sinnfälligkeit. Lachenmann ist, wie sich hier erneut zeigt, in der Nachfolge vor allem Beethovens oder Mahlers ein Komponist absoluter Musik par excellence. Auftrumpfender Ergänzungen durch andere Medien, etwa Text oder Bild, bedarf er eigentlich gar nicht. Tangiert sind gerade an diesem Punkt immer wieder die für Lachenmanns Schaffen so charakteristischen Berührungspunkte zwischen handwerklicher Genauigkeit und ästhetischen Vorstellungen. Als „Festival der saltando-Klänge“ beschreibt der Komponist anlässlich von „Kontrakadenz“ einen besonders markanten Abschnitt. Und überhaupt kommt der Begriff des „Festivals“, treffende Metapher für eine dezidiert positive, von klanglicher Entdeckerlust getragene Erfahrungshaltung, gleich mehrfach in diesen Filmen vor. Gleiches gilt für die Unterscheidungen zwischen „schön“ und „hässlich“, die von Lachenmann immer wieder auch konkret an Instrumenten demonstriert werden.
„More sentimental please“ ruft der Komponist beim selben Stück jenem Musiker zu, der die fragmentarischen Radio-Einspielungen steuert. Ein anderes Mal, bei „Klangschatten – mein Saitenspiel“, verdeutlicht er, dass auch Streich- und Blasinstrumente, wenn sie tonlos spielen, wie Wind anmuten können. Und in gleich mehreren Probenphasen geht es ihm darum, die filigranen Klangtupfer wie kleine Edelsteine wirken zu lassen – um auch das auf dem Instrument dann zu demonstrieren. Nicht zuletzt solche konkreten, in den Filmen visuell wie akustisch erfahrbaren Naturbezüge machen plausibel, warum der Komponist gerade in jüngerer Zeit seine Werke gerne als Klanglandschaften oder Kette von Naturereignissen beschreibt. Bei jedem Stück werden neben den Einstudierungen auch die anschließenden Konzerte dokumentiert. Die Aufführungen haben zum Teil Referenzcharakter und eine geradezu magische Intensität. Nur Weniges ist deutlich blasser geraten.
Wer die ganze Reihe ansieht und -hört, findet unschwer bestätigt, was ohnehin an Musikhochschulen wie in aufgeschlossenen Berufsorchestern längst geläufig ist: dass die Probenarbeit mit Lachenmann enorm erhellend sein kann – und sogar der Erschließung von Entdeckungsmöglichkeiten in jeder anderen anspruchsvollen Musik dienlich ist. Sie ist damit Hörerziehung und Orchesterschulung auf einmal, womöglich sogar Glückserfahrung. Genau da hat die in Stuttgart ansässige „Musik der Jahrhunderte“, die diese Reihe initiierte und gemeinsam mit dem Verlag Breitkopf & Härtel herausbrachte, in vortrefflicher Weise angesetzt. Wiebke Pöpel gelingt es, Abenteuerbereitschaft, Lernwillen, aber auch Arbeitserfolge der beteiligten neun Orchester erlebbar zu machen. Große Anschaulichkeit erhält das Ganze nicht zuletzt durch viele Einblendungen von Taktzahlen und Partitur-Ausschnitten sowie durch hilfreiche Wechsel zwischen Proben- und Konzertsituationen.
Hauptzielgruppe der Reihe sind wohl zunächst jene Klangkörper, die diese Stücke neu einstudieren. Doch wertvolle Erkenntnisse dürfte sie deutlich über alles bloß Pragmatische hinaus auch all jenen bieten, die dem Schaffen dieses so enorm prägenden Orchesterkomponisten aus musikwissenschaftlicher Perspektive oder aus schlichtem Interesse für Musik der Gegenwart näherkommen möchten. Und der Musikbetrieb als Ganzes sollte von einer mustergültigen Produktion wie dieser zu lernen versuchen, wie sehr gerade der oft arg kleinmütige Orchesterbereich davon profitieren kann, wenn man Komponistinnen und Komponisten substanzielle Gelegenheiten eröffnet, mit großen orchestralen Klangkörpern zu arbeiten, fernab des prekären, zuweilen wohl bloß als Vorwand genutzten Zeitdrucks.
- Lachenmann-Perspektiven (7 DVDs) Breitkopf & Härtel BHM 7811–7817. (je 21,50 €)