Eine Dampflokomotive schnauft durch Waldflecken, Laubenpieper-Kolonien und triste Vorstädte ins Zentrum Berlins, zum Anhalter Bahnhof. In zeitgenössischem Schwarz-Weiß und seit Jahren ungewohntem Vier-zu-Drei-Format. Walther Ruttmanns Stummfilm „Sinfonie einer Großstadt“ wurde 1927 von der Zensur – man erfährt nicht, was weggeschnitten werden musste – in einer 66-Minuten-Fassung freigegeben.
In zunächst ruhigem, dann immer hektischerem Rhythmus entwickelt sich ein Tagesablauf, der vom Kopfkissen-Ausschütteln über das Öffnen der Werkstore, das Hetzen der Arbeiter in eine Maschinenwelt, die zigarrenrauch-umflorte Anfahrt der Direktoren in der Luxuslimousine, ein kleines Polo-Spiel und charakteristische kleine Stadt-Szenen bis hin zum scheu dokumentierten Nachtleben nichts auslässt. So erfuhr der Streifen von Alt-Kritiker Siegfried Kracauer auch Schelte: „Hier reihen sich Fetzen aneinander, von denen keiner errät, warum sie eigentlich vorhanden sind.“ Dem konnten sich Jahrzehnte später die Macher des 31. Münchner „DOK.fest“ – der deutschen Dokumentarfilm-Plattform – zurecht nicht anschließen. Ruttmanns Film ist ein durchaus auch künstlerisch überzeugendes zeitgeschichtliches Stadtporträt. Von Edmund Meisels Originalmusik zu dem Film blieb nur eine Klavierfassung erhalten.
Eine ganze Riege von Komponisten versuchte sich an Rekonstruktionen oder Neuklang-Schöpfungen, darunter Mark-Andreas Schlingensiepen oder Bernd Thewes anlässlich der Uraufführung einer sorgfältig restaurierten Version der „Symphonie“ für die Ausstrahlung bei „arte“. Die belgische Band We Stood Like Kings schuf schließlich 2012 einen Rock-Soundtrack, den sie live zu Ruttmanns Film darbot. So richtig befriedigend waren all diese „Opera“ nicht.
So darf man es zunächst als mutige Initiative bezeichnen, dass die Kulturstiftung der Bayerischen Versicherungskammer in Kooperation mit dem Festival-Team für die Reihe „Symphonischer Dokumentarfilm“ einen Kompositionsauftrag vergab, den das Münchner Kammerorchester unter der Leitung von Jonathan Stockhammer realisieren sollte.
Der nicht gerade Filmmusikerfahrene Neuburger Komponist Tobias PM Schneid wagte sich ans Werk – und es gelang hervorragend. Während viele Filmmusik-Tonsetzer auf Untermalung, dramatische klangliche Betonung, vermeintlich akkurate Umsetzung des Bildes in Klang setzen – und somit eher Brei anrühren – schuf Schneid mit „A City’s Symphony“ ein durchaus autarkes Stück Musik, das sich dem Bild nie anbiederte und es doch zum Tragen brachte. So entstand eine spannende, konstruktive Reibung, die dennoch schnittgenau in hohem Tempo und bei aller kompositorischer Höchstanforderung präzise live abzuliefern war.
Dieses Bravourstück gelang dem Münchner Kammerorchester unter Stockhammers Leitung – untertrieben formuliert – grandios. Der fantasievollen, zeitgenössischen Komposition zollte das Publikum ebenso angemessenen tosenden Beifall wie dem in Hochform agierenden Orchester und dem souveränen Dirigenten. Steht zu hoffen, dass diese Version der „Sinfonie einer Großstadt“ viele „Nachspielorte“ findet.