Mythos der Moderne, Kapitalismuskritik, Deutschtümelei – schier unerschöpflich sind die Sichtweisen auf Wagners „Ring“. Die feurigsten Debatten entzündeten sich an der Frage nach dem eigentlichen Handlungsträger. Scharen von Kommentatoren brachten spärliches Licht ins Dunkel möglicher Interpretationen. Wer die mittlerweile zweite Version auf DVD gesehen hat, dem wird die Antwort wenig Kopfzerbrechen bereiten.
James Levine mobilisiert derart packende dramatische Energien, dass der Zuseher Szenerie und Solisten oft nur als Detail am Rande wahrnimmt. In dieser Aufzeichnung aus der New Yorker Met spricht der eigentliche Handlungsträger aus dem Orchestergraben. Dafür ist nicht allein Levine verantwortlich, sondern genauso die Präzision und Musikalität seiner Spitzenkräfte: In der „Götterdämmerung“ hört man zwischen Streichern und Blech ein ständiges Geben und Nehmen, das dem Teamwork einer gut eingespielten Kammermusikformation nahe kommt. Dabei entstehen zielorientierte Bögen von einer klanglichen Homogenität, bei der man meint, ein Lebewesen atmen zu hören.
Klar ist aber auch, dass sich das Orchester nicht derart ins Zentrum rücken könnte, wenn auf der Bühne ebenbürtige Partner Paroli bieten würden. Am ehesten trifft das auf Christa Ludwigs Waltraute zu und weniger auf ihre Fricka, die nur bedingt an die Aufnahme unter Solti heranreicht. Bei Siegfried Jerusalem ist der Fall ähnlich geartet: Dem Loge entlockt er Legato-Bögen, die der wahre Wagner-Fan unbedingt einmal hören sollte – als Darsteller des Siegfried legt Jerusalem eine Jugendlichkeit an den Tag, die er akustisch nicht transportieren kann.
Und obwohl auf den sieben Silberscheiben alles versammelt ist, was Ende der 80er-Jahre Rang und Namen hatte im Wagner-Fach, bleibt von der übrigen Besetzung wenig Erfreuliches zu berichten. Kaum auszumachen etwa, was sich James Morris bei der Interpretation des Wotan dachte. Die Walküre von Hildegard Behrens hat zwar wesentlich mehr Profil, doch matte Töne trüben es ebenso wie der Bruch zwischen ihrer guten Höhe und der nicht so sicheren Mitte und Tiefe. Jessye Norman gibt die Sieglinde allzu damenhaft, Gary Lakes wird den idiomatischen Anforderungen des Siegmund nicht annähernd gerecht. Nur Kurt Molls Hunding verleiht der „Walküre“ einen Schuss Authentizität. Schade, dass die Personenregie mitunter auf ein Mindestmaß absinkt: Eine spannende Story um allgemein-menschliche, auch heute noch aktuelle Fragen ist so gut wie nie zu erleben – aber warme Orchesterklänge in freiem Fluss dafür fast immer.
Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen; James Morris (Wotan, Der Wanderer), Siegfried Jerusalem (Loge, Siegfried),Heinz Zednik (Mime), Jan-Hendrik Rootering (Fasolt), Matti Salminen (Fafner, Hagen), Christa Ludwig (Fricka, Waltraute), Gary Lakes (Siegmund), Kurt Moll (Hunding), Jessye Norman (Sieglinde), Hildegard Behrens (Brünnhilde); Chor und Orchester der Metropolitan Opera, James Levine; Inszenierung: Otto Schenk, Bühne: Günther Schneider-Siemssen; Bildregie: Brian Large (1989/90)
DG/Universal 7 DVD 073 043-9 (938‘)