Zu den erfreulichsten Früchten des Bernstein-Jahres 2018 zählt die Veröffentlichung sämtlicher von ihm konzipierter, moderierter und meist auch dirigierter „Young People’s Concerts“ aus den Jahren 1958 bis 1972 (Vol. I wurde in nmz 2/2019 besprochen). Bevor auf die inhaltlichen Höhe- und Schwachpunkte der die Serie nun vervollständigenden Folgen II und III eingegangen werden soll, ist ein grundsätzlicher Wermutstropfen zu konstatieren: Aus unerfindlichen Gründen werden die Konzerte nicht in chronologischer Reihenfolge präsentiert.
Das ist insofern schade, als Bernstein sich oft explizit auf ein vorangegangenes Konzert bezieht, das sich dann aber möglicherweise auf einer anderen Scheibe in einer anderen Box befindet. Auch der Wechsel zwischen Schwarz-Weiß und Farbe, zwischen Carnegie Hall und Philharmonic Hall (ab 1962) ist beim „Binge-Watching“ etwas irritierend.
Ein weiterer editorischer Kritikpunkt betrifft die im Prinzip guten Übersichten in den Booklets: Hier wird ausschließlich das Datum der Fernseh-Ausstrahlung angegeben, nicht aber das der bisweilen einen ganzen Monat früheren Aufzeichnung, also des Live-Konzerts. Dies wäre anhand der sämtlich online über die Library of Congress verfügbaren Manuskripte und Ablaufzettel der Sendungen (eine Fundgrube!) problemlos möglich gewesen.
Nun aber zum Gehalt, der über weite Strecken erneut faszinierend ist. Auch in den insgesamt betrachtet oft weniger herausragenden Komponistenporträts (Sibelius, Schostakowitsch) steckt immer noch jede Menge musikvermittlerische Substanz. Besonders inspiriert ist Bernstein, wenn er eine Lanze für einen damals noch unentdeckten Meister wie Charles Ives brechen kann (hier bezieht er sich unter anderem auf „Fun“ als unterschätzte musikalische Kategorie) und/oder sich auf ein exemplarisches Stück konzentriert: Hindemiths Mathis-Symphonie, Liszts Faust-Symphonie, Berlioz’ „Symphonie fantastique“ oder „Don Quixote“ und später „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss.
Und doch sind es wieder die thematisch konzipierten Konzerte, die Bernsteins pädagogisches Genie in Gänze zeigen: Glanzstücke sind hier die Konzerte zur Sonatenform, zu Intervallen und zu Modi. Ein einzelner Ton sei noch keine Musik, so Bernstein zu Beginn des Intervall-Konzerts. Erst die Spannung durch den Abstand zu einem anderen Ton lasse Musik entstehen. Mit einem Maßband macht er die in gleiche Abschnitte unterteilte Oktave anschaulich, mit Vaughan Williams’ 4. Symphonie demonstriert er die Kraft, die vom Kontrast zwischen einem Thema aus kleinen und einem aus großen Sekunden entstehen kann. Die kraftvoll-gewalttätige Interpretation des vierten Satzes bildet dann auch den verblüffend schroffen Abschluss des Programms.
Das Konzert zu Modi (in Farbe geht Bernstein 1966 in seine zehnte Saison) spielt sich lange Zeit an der Klaviatur ab. Ausgehend von einem Problem seiner Tochter Jamie, zu einem bestimmten Pop-Song die richtigen Akkorde zu finden, geht er die Kirchentonarten mit ihrem jeweils spezifischen Charakter durch und hat stets ein treffendes Beispiel aus dem 19. und 20. Jahrhundert, aus Klassik und Pop parat.
Dass die reaktionsschnellen New Yorker Philharmoniker bei diesen Konzerten nicht alles aus dem Stand aus dem Ärmel schütteln konnten, zeigt die grotesk missratene Eröffnungsfanfare von Strauss’ „Zarathustra“, ein Eindruck, den das Orchester im weiteren Verlauf aber zumindest relativieren kann. Dass ausgerechnet in dem der Akustik der neuen Philharmonic Hall gewidmeten Programm vom November 1962 die Tonqualität ausnahmsweise etwas prekärer ausfällt, kann man als schlechtes Omen für den fortan problematischen Konzertsaal werten …
Herausragende musikalische Momente gibt es aber natürlich auch zu bestaunen. Da ist etwa im zweiten Copland-Geburtstagskonzert (Dezember 1970) der legendäre Soloklarinettist Stanley Drucker zu erleben, der von 1948 bis 2009 (sic!) Mitglied der New York Philharmonic war. Von den „Young Performers“ verblüfft vor allem der 16-jährige André Watts mit Liszts erstem Klavierkonzert. Watts ist dann auch bei einer „Alumni Reunion“ vier Jahre später dabei. Gereift, aber nach wie vor mit unbändigem Vorwärtsdrang, spielt er den ersten Satz von Brahms’ zweitem Klavierkonzert.
Am Ende der Ausstrahlung des Konzerts zu Holsts „The Planets“ (März 1972) kündigt der Sprecher ein Folgeprogramm zu Anton Bruckner mit Dean Dixon als Dirigent an. Dieses fand dann aber nie statt, und so endet diese denkwürdige Serie offen: mit einer wilden, von Bernstein mit viel Spaß am organisierten Chaos angezettelten Kollektivimprovisation zu dem bei Holst fehlenden Planeten Pluto …
- Leonard Bernstein’s Young People’s Concerts. New York Philharmonic, Vol. II und III, jeweils 4 Blu-ray-Discs oder 7 DVDs. Unitel/C Major (Naxos)