„Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau’n“ – in dem Revuefilm „Immer nur Du“ von 1941 gibt sich Johannes Heesters, flankiert von einer Pianistenriege, auf übergroßer Klaviatur steppend in Frack und Zylinder mit Danilo-Schmelz als „Piano doch Forte-Erwecker geheimster Gefühle“. Da der Klavierklang im Film der 40er-, 50er- und 60er-Jahre „erregend wie Sekt“ prickelt, gilt er, ob frivol oder pathetisch, satirisch oder sakral, als Männerdomäne.
Wenn der Salonlöwe in die Tasten greift, schmelzen Frauenherzen dahin: „denn nur er kann mit Tönen/den lauschenden Schönen/ein Luftschloß der Liebe erbau’n.“ Kommt noch die Klavierlehrer-Erotik dazu wie in Hermann Bahrs Komödie „Das Konzert“ (verfilmt 1956 mit Viktor de Kowa unter dem Titel „Nichts als Ärger mit der Liebe“), dann ist der umschwärmte Tastenverführer perfekt. Ein in die Jahre gekommenes Klischeebild, das Ausnahmen verträgt wie „Eroica“, „Träumerei“ oder „An American in Paris“, wenn das Metier die Künstlerpose rechtfertigt. Hin und wieder ließ Hollywood auch seine Diven am Flügel posieren: Greta Garbo in „Romanze“, Ingrid Bergman in „Intermezzo“, Katherine Hepburn als Clara Schumann, Doris Day und Marilyn Monroe. Seinem romantisch-erotischen Flair entsprechend agiert der Klavierfilm innerhalb vieler Genres: vom Drama und biografischen Musikstreifen über Rührstück, Revue, Komödie und Slapstick-Kino bis zu Krimi und Horrorfilm. So vielfältig ist das Faszinosum eines „Cinema del pianismo“, dass ihm ARTE im Jahr 2014 eine ganze „blow up“-Reihe, betitelt „Das Klavier im Film“, widmete. Hier kreisten um Jane Campions Blockbuster „The Piano“ Künstlerbiografien wie „Ray“ (Film über Ray Charles), „Liberace“ und „Great balls of fire“ neben Evergreens wie „Casablanca“ und „Tirez sur le pianiste“ oder Verführungsstories à la Claude Chabrols „Merci pour le chocolat“ und Michael Hanekes „Klavierspielerin“.
Eine Extranische gehört dem Wunderkind-Film. In junger Tastenbrillanz verdichtet sich das Spektakuläre mit narzisstischer Gefährdung der frühen Karriere: Neben den Mozart-Filmen präsentieren etwa „Das freche Kind“ von Claude Miller, „Shine“ von Scott Hicks, „Licht“ von Barbara Albert oder „Vitus“ von Fredi M. Murer kritische, tragische, poetische und listenreiche Beispiele von Hochbegabten.
Die Kehrseite des Glamours
Wo Pathos im Spiel, ist die Parodie nicht weit; die Kehrseite des Glamours liegt im Spott der Salonattitüde. An Bild-und-Tonextremen: komischen, skurrilen bis grotesken, heroischen und sentimentalen, knisternd erotischen wie mysteriös unheimlichen, verspielten wie glamourösen Klavierszenen mangelt es wahrlich nicht im bunten Kaleidoskop des Kintopps. In den Cartoons ramponiert 1929 Walt Disneys Mickey Mouse Rachmaninoff und Liszt; Tom und Jerry wetteifern 1947 bei „Cats concerto“ im Tastenvirtuosen-Klamauk simultan mit „Rhapsody Rabbit“ zu Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2. Dieser Karikaturen mag sich Charlie Chaplin erinnern, wenn er in „Monsieur Verdoux“ nach getanem Frauenmord auf heimischem Flügel die Liszt’schen Triumphoktaven herunterdonnert. In diesem Film wie auch im „Großen Diktator“ spart Chaplin nicht mit weiteren Piecen des Absurden. Virtuosengroteske als Entlarvung vergreister Klassikerverehrung wandert 1970 in den „Ludwig van“-Film von Maurizio Kagel, wo der zur Horrormaske erstarrten Beethovenlegende Elly Ney bei maskulin gehämmerter Waldsteinsonate die schlohweiße Künstlermähne in den Flügel wuchert. Ken Russel desavouiert vollends in seiner „Lisztomania“ von 1975 vorgeblich deutsche Pianistenhysterie, stattet dafür aber Richard Chamberlain als b-Moll konzertierenden Pjotr Iljitsch in „Tschaikowsky, Genie und Wahnsinn“ mit edlem Schmalz aus. Harmloser gibt sich Milos Formans populärer Film „Amadeus“, in dem Kaiser Franz Joseph vor den Augen des clownesken Mozart mühsam ein Salieristück auf dem Spinett stottert. Ebenfalls im Reich der Groteske angesiedelt ist die amerikanische Komödie von 1953 „Die 5000 Finger des Dr. T“ – eine in Abwandlung des Dr. Mabuse-Filmtitels vergnügliche Tastenrevue über das Martyrium des Klavierübens von Roy Rowland.
Verführungsträume und Flohwalzer
Wie die Erotik von Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert in die Verführungsträume des kleinen Angestellten abrutschen kann, zeigt Billy Wilders „verflixtes 7. Jahr“. Der Ausruf: „Rachmaninoff!“ aus dem Mund Marilyn Monroes genügt, um das mondäne c-Moll-Thema in den Orkus der Trivialität zu schleudern – und so landen Verführer und Objekt der Begierde schließlich einträchtig beim Flohwalzer. Trivial mit dramatischem Untergrund lässt Alfred Hitchcock in „Der Mann, der zuviel wusste“ die kürzlich verstorbene Doris Day „Che será, será“ als Rettungsruf für den entführten Sohn intonieren; die Rührepisode erinnert an den Kultfilm „Casablanca“, wo Ingrid Bergman den Barpianisten Sam zum unvergessenen Hupfeld-Song „As time goes by“ animiert. Eindeutig auch der Einfluss von „Casablanca“ auf François Truffauts Nouvelle-Vague-Film „Schießen Sie auf den Pianisten“. Sinister und zweideutig dagegen setzt Hitchcock das Klavier in „Cocktail für eine Leiche“ ein: Der Student Philip, dessen Hände soeben den Freund stranguliert haben, spielt nun mit wachsender Nervosität das geniale „Moment perpetuel“ von Francis Poulenc.
Der Salonstaub, der am Flügel haftet, lähmt seine Transzendenz und nährt den Horror. Dass „Tote Klavier spielen“ können, demonstriert nicht nur der Thriller gleichen Titels von 1961 (Originaltitel „Scream of fear“), sondern ein Jahr zuvor Mario Bavas bildmächtiger Klassiker „La maschera del demonio“ ( auf deutsch: „Die Stunde, wenn Dracula kommt“). Gegenüber der dämonisch-schwülen Rachmaninoff-Atmosphäre in Draculas Salon schwingt sich Roman Polanskis Gruselsatire „Tanz der Vampire“ zu wurmstichigen Spinettklängen auf. Dass Polanski später ganz andere „Töne anschlagen“ kann, beweist er mit seinem Film „The Pianist“ von 2002, der nicht nur ein ergreifendes Schicksal jüngerer Geschichte behandelt, sondern wie Truffaut das Elend des Musikers thematisiert.
Erlebnisinstrument Klavier
Damit sind wir beim Künstlerfilm: der erhebt das Gesellschaftsinstrument Klavier zum Erlebnisinstrument. Die Klaviatur der Anschlagsnuancen wird zur Allegorie des Daseins schlechthin. Lebensferne und Musiknähe stehen sich gegenüber. Die Meister im Reich der Töne versagen im Alltag: Bach verarmt, Beethoven ertaubt, Schumann „entrückt“, Brahms vereinsamt. Und vom Abstieg von Truffauts Konzertpianisten Charlie Kohler heißt es: „Schaut ihn euch an. Ein Virtuose, der Schnulzen spielt. Aber Himmel nochmal, man sollte ihm… einen Flügel geben.“
Auch Giuseppe Tornatores „Legende vom Ozeanpianisten“ lebt von der Mär des weltentrückten Musikers: dem auf dem Dampfer just 1900 geborenen Jazzpianisten Neunzehnhundert ist gleichsam das Holländerschicksal beschieden, nicht an Land gehen zu können. Bei aller Liebe der Pianisten zu Exzessen und Selbstzerstörung bleibt die Identität mit dem Instrument gewahrt; fast scheint es, als sei das Piano als Maskulinum intakt, wogegen es als weibliches Attribut der Beschädigung ausgesetzt ist. Ein markanter Vergleich: Verdankt etwa der Rundfunkpianist Wladyslaw Szpilman in der Realität und im Polanskifilm sein „wunderbares Überleben“ Chopin, dann reduziert sich das „Piano“ bei Jane Campion zur hilflosen inneren Stimme der äußerlich verstummten Ada.
Auch Hanekes „Klavierspielerin“ begräbt ihre Emotionen in ihrem Flügel; außerhalb desselben vermag sie Gefühle nur in Voyeurismus auszuleben. Der Mann behält die Herrschaft über sein Instrument, die Frau offenbar (noch) nicht – das „Höhere Töchterspiel“ hat sie nicht befreit, und die Spiellaune der Adelssalons ist dahin. Der Viktorianismus, der Ada in fantastischer Bild-Bizarrerie mitsamt Flügel aus England an Neuseelands Strand spült, löst sich im Reich der wilden Maoris buchstäblich auf, wenn sie ihren Körper einsetzen muss, um das vom kunstunwilligen Ehemann an den faszinierten George Baines verkaufte Instrument Taste für Taste zurückzugewinnen. An dem Hintergrund ihres trüb monotonen Spiels webt noch das England des 18. Jahrhunderts: die versunkene Welt der Jane Austen, die nahezu alle ihre Romanheldinnen am Spinett zweitklassige Salonpiecen klimpern lässt. Gleichwohl unbehelligt von Adas Leidensweg und ihrem finalen Befreiungsversuch von der Fußfessel ihres Pianos zeigen sämtliche Austen-Verfilmungen von „Stolz und Vorurteil“, „Verführung“, „Sinn und Sinnlichkeit“, „Emma“ und „Mansfield Park“ ihre Heldinnen in süßer Eintracht mit Klavier, den Salonperlen, den männlichen Anbetern – mithin mit der oberflächlich beleuchteten Society des britischen Landadels. Rund hundert Jahre später steht die Frau am Meer mit Piano, doch ohne Salon stumm und einsam da: Was bleibt Ada übrig als eine Rebellion gegen ihr Instrument, das ihr eine Stimme, aber kein Leben gewährt? Michael Nymans Leit(d)-Melodie ist von entsprechender Larmoyanz geprägt.
Während Ada sich buchstäblich vom Piano löst, um zu Sprache und Sexualität zu finden, klaffen bei Erika Kohut in „Die Klavierspielerin“ subtiler Anschlag und verklemmtes Sexualverhalten auseinander. Von der Mutter abgerichtet als werdendes Klavierwunder, gibt sie die Solistenkarriere auf, vergnügt sich im Sadomaso-Trip jenseits des Konservatoriums in Peepshows, Klos und auf Parkplätzen und begegnet den Avancen ihres Studenten Klemmer abweisend wie sexbetont. Talent und Perversion bedingen einander. „Erikas Unglück erscheint wie eine altösterreichische Skurrilität, die aus einer versunkenen Epoche fremd in die nachpatriarchale Gegenwart hinüberragt“, schreibt Thomas Assheuer 2001 in der „Zeit“ und befindet, dass in dem von Haneke inszenierten „Zentrum der Kälte“ Schuberts traurige Musik gegen den „mitleidlosen Objektivismus der Kamera“ protestiere, sich wehre gegen die auf Macht und Unterwerfung reduzierte Beziehung der beiden Protagonisten.
Klavierkonflikte
Der Mutter/Tochter-Konflikt von „The Piano“ und „Die Klavierspielerin“ wird antizipiert von Ingmar Bergmans „Herbstsonate“, – nur ist hier das Verhältnis umgekehrt, denn die durchschnittliche Tochter muckt verspätet auf gegen den Pianistenglanz der Mutter. Gegen die Filmtrias weiblicher Klavierkonflikte steht Scott Hicks’ biografischer Film „Shine – der Weg ans Licht“ von 1996 mit dem Lebenskampf des australischen Wunderkindes David Helfgott. Man könnte in Helfgotts mühevollem Heilungsprozess aus dem Gefängnis väterlicher Tyrannei und psychiatrischen Anstalten über den Barpianisten zurück zum Konzertpodium sogar ein Happy End gegenüber Truffauts tristem Finale sehen – und wäre zurück bei der These, dass Filmmänner in stärkerer Harmonie mit dem Klavier leben als Frauen.
Als drastisches Gegenargument unter mehreren wäre der Film „Vier Minuten“ von Chris Kraus von 2004 zu erwähnen, der die verschlossene, unberechenbar aggressive, hochmusikalische Schwerkriminelle Jenny von Loeben in die strenge wie gütige Obhut der Klavierlehrerin Traude Krüger gibt, die das wilde Temperament Jennys bis hin zum triumphalen Wettbewerb bändigt. Das von ihr in Klavierkaskaden explodierende vierminütige Stück entspricht genuin der Gefühlswelt Jennys und gibt ihr die innere Befreiung, die etwa der Ada bei Campion versagt bleibt. Vielleicht bringt das Clara-Schumann-Jahr 2019 eine neue Balance im Genderkonflikt des Klaviers, sodass die der Musik ihres Gatten Robert bewusst „dienende“ Clara nicht mehr auf das Geschick einer Klara Hühnerwadel aus Frank Wedekinds Groteske „Musik“ bezogen werden muss?
1947 verfilmt Jean-Pierre Melville die Resistance-Novelle „Le Silence de la Mer“ des französischen Autors Vercors. „Adieu“ ist das einzige, letzte Wort, das die junge Französin dem deutschen kunstsinnigen Offizier Werner von Ebrennac nachflüstert, wenn dieser in seiner Liebe zu Frankreich und Trauer über das deutsche Wüten Abschied von ihr nimmt.
Ausgefülltes Schweigen
Die neue Filmversion von 2004 (Regie: Pierre Boutron) führt das Klavier als Verständigungsinstrument ein – ein Ersatz für das Schweigegelübde der beiden Franzosen André Larosière nebst Nichte Jeanne, der Klavierlehrerin des Dorfes. Schweigen als Trotzhaltung gegenüber deutscher Besatzung und dem ihnen zwangsweise zugewiesenen Gast. Musik ersetzt die verweigerte Sprache. Polanskis „Pianist“ als Weltkriegsszenario und Campions „Piano“ mit der Geste des Verstummens stehen Pate. Das Klavier füllt die „silence“, das Schweigen aus. Die Handlung ist eingebettet in die C-Dur- und c-Moll-Präludien aus Bachs Erstem Wohltemperierten Klavier. Just zur Ankunft Werner von Ebrennacs spielt Jeanne das C-Dur-Präludium.
Es ist seine Auftrittsmusik; später wird von ihren fliegenden Händen das c-Moll-Präludium als Alarmsignal zu seiner Rettung vor dem geplanten Attentat ertönen. Eine zarte Liebe bahnt sich an und – erlischt mit dem Wort „Adieu“. Bachs lautere Harmonie als Völkerverständigung gegen den Krieg ist ein probates, nicht kitschfreies Rezept; aber es ist subtiler Kitsch. Es berührt, dass der sensible Offizier der „demoiselle silencieuse“,wie er Jeanne zärtlich nennt, gerade in ihrem Stummsein zugetan ist, da es ihm Musik bedeutet wie das „Schweigen des Meeres“.