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Rameau, der Theater-Magier

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Eine DVD-Box dokumentiert bahnbrechende Opernproduktionen
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Wo bleibt nach der Händel-Renaissance der Rameau-Boom? Dies ist vielleicht die einzige dringliche Frage, die sich nach der höchst erquicklichen Durchsicht dieser DVD-Box stellt. Wie kann es sein, dass Musik, die von abgrundtiefer Tragik bis hin zu ausgelassener Albernheit alle Nuancen theatraler Gemütszustände aufs Feinste zu evozieren versteht, die von einsamer Solokantilene bis zu prächtigen Ensemble- und Chor-Tableaus alle Gesangs-Regis­ter bedient, dem barocken Orchester immer neue Klangfarben entlockt und Tänze von überwältigender rhythmischer Vielfalt entfesselt, nach wie vor ein Exoten-Dasein auf den deutschsprachigen Opernbühnen fristet?

Bis wir von Intendanten, Dramaturgen und Generalmusikdirektoren darauf eine Antwort bekommen, stürzen wir uns also hinein in Rameaus Bühnenkosmos und genießen den Einfallsreichtum derer, die diesen szenisch in Bewegung zu versetzen und musikalisch zum Leuchten zu bringen verstehen. Mit William Christie und Chris­tophe Rousset tun Letzteres zwei Vertreter unmittelbar aufeinanderfolgender Generationen. Rousset, der als Christies Assistent erste Erfahrungen als Ensembleleiter gesammelt hat, ist längst zu einem Dirigent mit eigener Handschrift herangereift. Mit seinen ausgezeichnet präparierten „Talens Lyriques“ pflegt er einen rhythmisch extrem zugespitzten, die Orchester­facetten mit hartem Schliff herausarbeitenden Stil, der mitunter auch eckige Züge annehmen kann.

Dieser Zugriff fügt sich freilich ganz selbstverständlich in das Regiekonzept ein, das Pierre Audi 2008 in Amsterdam für „Castor et Pollux“ realisierte: Der beinahe an Bob Wilson gemahnenden Statik der sehr detailgenauen Personenführung stehen Amir Hosseinpours, die Sänger teilweise mit Tänzern verdoppelnde, abgehackte Choreographien gegenüber. Während die Sänger äußerlich gefasst bleiben, soll es im Gesang und im Tanz brodeln, was immer wieder geschieht, bisweilen aber an der insgesamt vielleicht zu glatten, zu sehr im gehobenen Innenausstattermilieu erstarrenden Szenerie abperlt.

Insgesamt mehr dramatisches Leben steckt in Audis „Zoroastre“-Inszenierung, die er – dem barocken Drottningholmer Theater entsprechend – historisierend, aber gänzlich unverstaubt anlegt, wobei Hosseinpours Tanzelemente sich als belebendes, modernisierendes Element ganz selbstverständlich einfügen. Überragend ist die Atmosphäre am Beginn des vierten Aktes eingefangen, die zunächst nur mit Windmaschine beinahe ins Surrealistische wegkippt, um dann von den wie aus einer anderen Welt tönenden Bläser­mischungen der „Talens Lyriques“ aufgefangen zu werden. Ein makelloses Protagonistenquartett und die ungewöhnlichen Kameraperspektiven geben dem Mitschnitt einen besonderen Glanz.

Dennoch ist William Christie wohl doch der größere Rameau-Dirigent. Wie er mit seinen „Arts Florissants“ die Rhythmen abfedert, elastisch hält und sich förmlich an die fast durchweg großartigen Sänger anschmiegt, dürfte in diesem Repertoire konkurrenzlos sein. Der Humor und die Wärme, die er seinem Orchester einhaucht, überträgt sich mühelos auf die quirlig überdrehten Szenerien der „Indes galantes“ und der „Paladins“. Letztere erweisen sich in der Regie José Montalvos als beinahe poppiges Spektakel. Videoprojektionen mit herrlichen, von Lafontaines Fabeln inspirierten Tiermontagen, die Pilger als ein buntes Volk von Streetdancern, das Ganze mit Splitscreen-Elementen filmisch eingefangen: ein ­Feuerwerk szenischer Inspiration, von der Musik immer wieder wunderbar in tiefere Ausdrucksbereiche überführt.

Ebenso unterhaltsam fallen „Les ­Indes galantes“ aus. Andrei Serban gelingt es in einer Mischung aus spektakulären, aber von historischer Bühnentechnik inspirierten Szenerien, mit den bruchlos integrierten Tänzen und ­augenzwinkernder Personenregie das von ihm apostrophierte „Barock von heute“ zu evozieren.

Die Krönung der Box (die nun als ganze kaum mehr kostet als bislang die Einzelveröffentlichungen) dürfte aber die Pariser Produktion der „Boréades“ sein. Zum einen, weil diese seine letzte Oper die Summe von Rameaus Kunst als Musiktheater-Magier darstellt und absolut hinreißende Musik enthält, und weil Robert Carsen den Mut hatte, eine ganz eigene Bildersprache dafür zu entwerfen, die den Stoff als große Konfrontation von Gut und Böse mit Zwischentönen ernst nimmt, ohne ihn zu überfrachten. Unvergesslich die Auftritte der freudlosen Boreaden-Truppe, die aus ihren umgedrehten Regenschirmen Laub und Schnee regnen lässt, überwältigend Barbara Bonney, die ihre ganze Bühnenerfahrung in die Rolle der Alphise einbringt und mit ­ihrem Gesang gerade deshalb berührt, weil sie bisweilen aus den strengen ­Regeln der historisch informierten Technik ausbricht. Schön ergänzt werden die Mitschnitte von einstündigen Werkporträts, bei denen die Dirigenten in der Regel am meisten zu sagen haben. Einen guten Überblick über Rameaus Gesamtschaffen bietet Rainer E. ­Moritz’ Film „The Real Rameau“ auf der DVD mit der ­Motette „In Convertendo“. Rameau kann kommen. Wir sind bereit.

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