Anfang November ging durch die Weltpresse eine Meldung, die vermutlich nur Spezialisten ziemlich beeindruckt haben dürfte: Verschollene Kurt-Weill-Komposition entdeckt. Dabei handelte es sich um ein neues Puzzlestück in der Geschichte der deutsch-jüdischen Popularmusik des 20. Jahrhundert. Ein Puzzlestück, das auch viel über die Zeitläufte erzählt, in denen diese Werke entstanden sind, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Wenn man will, kann man diesen Fund einbetten in zwei weitere „Entdeckungen“ der letzten Jahre, die Originalaufnahme von Friedrich Hollaenders „An allem sind die Juden schuld“ oder die Entschlüsselung der deutschen Synchronfassung von Walt Disneys „Schneewittchen“ im Frühling 1938 in Amsterdam.
Eigentlich wollte der Kurt-Weill-Forscher Elmar Juchem nur in Berlin nach weiterem Material zu Weills „Happy End“ von 1929 suchen. Zusammen mit Elisabeth Hauptmann, die sich hier Dorothy Lane genannt hat, hat Bertolt Brecht diese „musikalische Komödie in drei Akten“ verfasst. Zumindest drei Lieder daraus wurden zu Gassenhauern der Berliner „Glimmer Twins“ Brecht/Weill: „Bilbao Song“, „Matrosen-Tango“ und „Surabaya-Johnny“. Als nun Juchem Ende September im Archiv des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität Berlin nach Weill-Mate-rial angefragte, präsentierte man ihm auch ein dreiseitiges Notenblatt, das er noch nie vorher gesehen hatte. Man muss dazu wissen, dass seit 1983 kein wichtiges Weill-Material mehr aufgetaucht ist. Seit 1987, dem Erscheinen der „Bibel“ der Weill-Forschung, David Drews „Kurt Weill: A Handbook“, musste das Werkverzeichnis also nicht mehr wesentlich ergänzt werden. In Drews „Handbook“ gibt es auch ein kleines Kapitel mit „doubtful and chimerical works“. Darin findet man ein Lied, das Lotte Lenya immer in der Erinnerung als „Lied vom blinden Mädchen“ bezeichnet hat. Und das man damals falsch zugeordnet hatte, weil ein Lied mit diesem Titel nicht zu finden war, ein Lied mit diesem Titel zumindest eine Chimäre war.
Elmar Juchem staunte nun nicht schlecht, als plötzlich das Notenblatt zu dem „Lied vom blinden Mädchen“ vor ihm lag. Freilich trug es einen anderen Titel: „Das Lied vom weißen Käse“. Und es war nicht geschrieben worden für das Günther-Weisenborn-Stück „Das Lied von Hoboken“ von 1930, wie vermutet wurde, sondern für eine politische Revue in der Jungen Volksbühne in Berlin, wie Juchem über die zeitgenössische Presse herausfand. Ein klassischer „Zeit-Song“ von 1931, dessen Zeitbezüge natürlich auch wie so oft heute eine Crux darstellen. Kim H. Kowalke, der Präsident der Kurt Weill Foundation, überlegt deshalb, ob bei zukünftigen Einspielungen zeitgenössische Namen nicht ersetzt werden müssen.
Eine weitere Chimäre: Im selben Jahr wie Lotte Lenya, 1931, sang Annemarie Hase in der Friedrich-Hollaender-Revue „Spuk in der Villa Stern“ zu Bizets „Carmen“-Habanera „An allem sind die Juden schuld“. Der Text war überliefert, aber es schien keine zeitgenössische Plattenaufnahme zu existieren. Obwohl es immer wieder Gerüchte gab, dass Annemarie Hase diese bitterböse Parodie auf den Antisemitismus der späten Weimarer Republik damals eingesungen haben soll. Selbst während der aufwendigen Recherchen zu meiner Friedrich-Hollaender-Box von 1996 (zu der ich fast 200 Aufnahmen aus fünf Jahrzehnten zusammengetragen hatte) ist diese Aufnahme nur ein „Gerücht“ geblieben. Erst während der Arbeiten eines Kollegen an einem Annemarie-Hase-Projekt ist dann in einem ihrer verstreuten Nachlässe tatsächlich diese Preziose aufgetaucht: eine unverkäufliche Musterplatte der Electrola Gesellschaft m.b.H. Nowawes-Potsdam mit dem Titel „An allem sind die Juden schuld“. Eine Plattenaufnahme von 1931, die erst 1999 erstveröffentlicht wurde.
Kurt Weill und Friedrich Hollaender sind 1933 nach Frankreich geflüchtet. Während Hollaender dort im Hotel Ansonia nur überwinterte, um auf den Absprung nach Hollywood zu warten, gelang Weill zusammen mit Brecht 1933 mit „Die sieben Todsünden“ ein weiterer künstlerischer Erfolg. Zum Umfeld von Weill und Hollaender gehörte in der Weimarer Republik auch ein Schauspieler und Regisseur, der zu den besten „Chargen“ des Kinos jener Zeit gezählt werden muss: Kurt Gerron. Als erster hatte er Brecht/Weills „Mackie Messer“-Moritat gesungen und er war Hollaenders „Nachtgespenst“ gewesen. Über den Umweg Österreich war er Mitte der dreißiger Jahre in Holland gelandet. Dort bekam er 1938 auch den Auftrag, die deutsche Synchronfassung von Walt Disneys erstem abendfüllenden Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ herzustellen. Im Frühling 1938 begannen unter der Regie von Kurt Gerron die Synchronarbeiten an der deutschen und holländischen Fassung von „Schneewittchen“. Fans haben nun aufgeschlüsselt, wer einige der Figuren gesprochen hat. Hortense Raky war Schneewittchen, Dora Gerson sprach die Königin, Schlafmütz verkörperte Kurt Gerron, Otto Wallburg war der Doc, Kurt Lilien sprach den Brummbär und Siegfried Arno war Happy. Vor dem Krieg kam der Film aus politischen Gründen nicht in die deutschen Kinos. Aber es gab im Dezember 1938 eine Premiere in der Schweiz. Im Juni 1948 folgte die Nachkriegspremiere in Wien. Im Februar 1950 folgte endlich auch der deutsche Kinostart. Im Kinosaal lauschte man – ohne es zu wissen – den Stimmen von Schauspielern, die von den Nazis, die „Schneewittchen“ intern so geliebt hatten, ermordet wurden: Kurt Gerron, Dora Gerson, Otto Wallburg und Kurt Lilien. Inzwischen ist diese Fassung komplett aus dem Bewusstsein verschwunden. Auch weil Disney immer wieder neue Synchronfassungen seiner Klassiker produzieren ließ. Und bisher einen sehr merkwürdigen Umgang mit dem komplexen Erbe der Firma betrieb.