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Fotobearbeitung: Nikita Bartenev
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Victor Hollaenders Heimkehr

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Wiederentdeckte Originalmusik zu Ernst Lubitschs „Sumurun“ (1920) feierte zweite Premiere
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Im Frühwerk der späteren Hollywoodlegende Ernst Lubitsch (1892–1947) nimmt sein Film „Sumurun“ (1920) eine Zwitterstellung ein: er gehört weder zu den zahlreichen Milieu-Burlesken, die Lubitsch ab 1914 meist in Berlin drehte, noch zu seinen ambitionierten Melodramen über Frauenfiguren wie Carmen, Madame Dubarry oder Anna Boleyn.

Heute kaum noch bekannt ist, dass „Sumurun“ die Verfilmung einer Bühnenpantomime ist, die Max Reinhardt 1910 am Deutschen Theater inszeniert hatte – eine Reminiszenz an die Märchen aus ,Tausend-und-einer-Nacht‘, die die Lust des damaligen Publikums an exotischen Stoffen bediente. Die Pantomime wurde ein internationaler Erfolg, lief in London, Paris und in New York am Broadway. Inspiriert durch die im Bagdad des neunten Jahrhunderts angesiedelte Vorlage breitet Lubitschs zehn Jahre später entstandene Sumurun-Verfilmung einen orientalischen Bilderbogen aus, der mit aufwändigen Kulissen und opulenten Kostümen aufwartet. Der aber auch, was die Personenzeichnung betrifft, kräftige Pinselstriche aufweist. Sei es in Person eines despotischen Scheichs (Paul Wegener) und dessen rivalisierendem Sohn (Carl Clewing), die um die Gunst einer mit allen Tricks der Verführungskunst ausgestatteten Tänzerin (Pola Negri) buhlen, sei es in den Figuren eines „Obereunuchen“ (Jakob Tiedtke) oder eines buckligen Gauklers als ewig abgewiesenem Verlierer (von Lubitsch selbst gespielt): Hier werden unverhohlen orientalistische Stereotypen ausgestellt. Aus heutiger Sicht ein Fall kultureller Aneignung in der Hochzeit des Imperialismus, aus der die Vorlage von Friedrich Freksa (1882–1955) stammt - würde Lubitsch nicht eben jene Klischees durch krasse Überzeichnung seiner Figuren gleichzeitig persiflieren.

Der Regisseur nutzte für seinen Sumurun-Film nicht nur die Ausstattung aus Reinhardts Pantomime, sondern auch deren Bühnenmusik, ersonnen von Victor Hollaender (1866–1940). Der Komponist, Kapellmeister und Theaterleiter war einer der erfolgreichsten Unterhaltungsmusiker im Berlin der Kaiserzeit, besaß wie sein noch heute berühmter Sohn Friedrich (1896–1976) eine Nähe zu Kabarett und Revue und glänzte durch Vielseitigkeit. Neben Schlagern wie „Das Schaukellied“ oder „Kirschen in Nachbars Garten“ hatte Hollaender eine Oper im chinesischen Stil („San-Lin“, 1899) geschrieben, ebenso eine Reihe orientalischer Operetten: „König Rampsinit (1891), „Der Bey von Marokko“ (1894) oder „Die zwölf Frauen des Japhet“ (1902). Eine Empfehlung für Max Reinhardt, Hollaender mit der Komposition für seine Pantomime zu beauftragen, und eine naheliegende Option für Ernst Lubitsch, die gleiche Musik in seiner Sumurun-Adaption zu verwenden. Sie wurde nach der Premiere des Films im März 1920 überwiegend gespielt. Seit jedoch die Einführung des Tonfilms um 1930 die Livebegleitung in den Kinos verdrängte, geriet Hollaenders Originalmusik in Vergessenheit und galt zuletzt als verschollen.

Ein glücklicher Zufall spielte dem rührigen Leiter des Berliner Metropolis-Stummfilmorchesters Burkhard Goetze ein zerfledertes Exemplar von Hollaenders „Sumurun“-Klavierauszug in die Hände. Mit Hilfe des Weimarer Stummfilmkomponisten und -pianisten Richard Siedhoff rekonstruierte Goetze die Orchesterfassung von Hollaenders Musik. Das Ergebnis war jetzt im Potsdamer Nikolaisaal mit dem Filmorchester Babelsberg unter Goetzes Leitung zu erleben. Hollaenders Musik besticht durch einen Ideenreichtum, wie er für die meist unter Zeitdruck entstandenen Stummfilmvertonungen jener Zeit keineswegs selbstverständlich ist. Was Wunder: Hollaender konnte sich mehr Zeit lassen und in der Bearbeitung für Lubitschs Film weitere Optimierungen vornehmen. Der gängigen Praxis folgend, ordnet Hollaender seinen Protagonisten wiederkehrende Leitmotive zu. Neben den obligatorischen Orientalismen erklingen aber auch Walzerrhythmen, wirkt mancher schwere Blechbläsereinsatz wie ein Vorgriff auf James Horner oder John Williams. Hollaender war kompositorisch ganz der spätromantischen Klangwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts verhaftet. Seine Musik bewegt sich in durchaus vertrauten harmonischen Bahnen, insofern hatte das Filmorchester Babelsberg keine größeren Herausforderungen zu bestehen.

Für Liebhaber der historischen Aufführungspraxis von Stummfilmen ist Hollaenders „Sumurun“-Musik ebenso ein Glücksfall wie eine Bereicherung. Ob sie heutigen Hörgewohnheiten noch entspricht und den musealen Charakter dieses hundert Jahre alten Films nicht eher betont, sei dahingestellt.

Für Victor Hollaender, der 1934 mit seinem Sohn Friedrich in die USA emigrieren musste, bedeutet seine „Sumurun“-Musik eine überfällige Rehabilitierung und eine späte Heimkehr in das Land seiner größten Erfolge.

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