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Visionen eines christlichen Agnostikers

Untertitel
Tony Palmers Filmbiographie zum 50. Todestag des großen Engländers Ralph Vaughan Williams
Publikationsdatum
Body

„O Thou Transcendent“. The Life of Ralph Vaughan Williams. Ein Film von Tony Palmer
TPDVD106 (Naxos)

R.V.W.: Während diese drei Buchstaben hierzulande eher Assoziationen an ein Wolfsburger Joint Venture auslösen, genügt die liebevolle Abkürzung in England, um eine musikalische Tradition heraufzubeschwören. „The Lark ascending“, „Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“, „Linden Lea“ oder „A London Symphony“ – kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts hat sich im musikalischen Gedächtnis Englands ähnlich intensiv eingeschrieben wie Ralph Vaughan Williams, dessen Todestag sich Ende August zum 50. Mal jährt.

In England zunächst als Erneuerer und später als Vaterfigur einer neuen Generation anerkannt und verehrt, hat sich seine Musik in Deutschland kaum durchsetzen können. Mit Skepsis und oft genug auch arroganter Selbstgefälligkeit maß man seine herberen Werke an den Errungenschaften der Neuen Wiener Schule, seine die selbst gesammelten Volkslieder fortschreibenden Melodien an dem radikaleren Bartók und tat – Werktitel wie „A Pastoral Symphony“ oberflächlich zur Kenntnis nehmend – einen Großteil seiner Musik als laue Evokationen idyllischer Naturzustände ab. Eine entsprechend geringe Rolle spielt Vaughan Williams hier auch im Konzertsaal.

Neben zahlreichen Tonträgern, die Interessierten schon seit längerer Zeit die Möglichkeit eines differenzierteren Bildes bieten, liegt nun pünktlich zum Gedenkjahr eine zweieinhalbstündige Dokumentation des renommierten Musikverfilmers Tony Palmer auf DVD vor, die zunächst einmal durch die schiere Materialfülle und die ausführlichen Klangbeispiele besticht. Zentrale Werke werden nicht nur kurz angespielt, sondern immerhin so lange, um sich einen ersten repräsentativen Eindruck zu verschaffen. Wichtigster, eigens für den Film engagierter Klangkörper hierfür ist das National Youth Orchestra, dessen Gründung R.V.W. unterstützt hatte. Die immergleiche indirekte Beleuchtung der Musiker nutzt sich als Effekt schnell ab, zumindest gilt in diesen Passagen aber die Konzentration ganz der Musik.

Ansonsten ist die wenig stringent zwischen biographischen Stationen und thematischen Blöcken variierende Struktur des Films allerdings immer wieder dazu angetan, die Aufmerksamkeit von den Werken selbst ab- und auf einen leider oftmals diffus bleibenden Kontext oder vermuteten inneren Gehalt hinzulenken. So verkommt – weil musikalische Kommentare fehlen – die für englische Verhältnisse durchaus kompromisslose vierte Symphonie zum Selbstporträt eines zornigen Mannes, der an seiner Ehe mit einer an den Rollstuhl gefesselten Frau verzweifelt. Die Sechste wird chronologisch falsch mit dem ersten Weltkrieg assoziiert, den R.V.W. an der Front miterlebte. Wirr und an der Grenze des Geschmacklosen angesiedelt, schiebt Palmer Gräuelbilder von aktuellen Konfliktherden und startenden Kampfflugzeugen dazwischen und degradiert somit einige der stärksten Passagen von Vaughan Williams’ Musik zu einem fragwürdigen Soundtrack. Zur „Sea Symphony“ schließlich, jener in der Verbindung von Chor und symphonischem Apparat überwältigenden Walt-Whitman-Apotheose, bekommen wir tosendes Meerbrausen und verheerende Überschwemmungen zu sehen. In Sachen Filmästhetik also „Land unter“, Sängeraufnahmen vor mystisch-unscharfen Kirchenfenstern und hubschrauberbeflogene Landschaften komplettieren das traurige Bild.

Gut, dass einige der zahllosen Interviewpartner (vor allem Stephen Johnson und Michael Kennedy) wenigstens etwas zu sagen haben über den sympathischen, manchen Widerspruch in seiner Person vereinigenden Menschen Vaughan Williams: den christlichen Agnostiker, der zwei Jahre lang an einer Neuausgabe des „English Hymnal“ arbeitete und dessen sakrale oder sakral inspirierte Werke immer einen tiefen Zweifel in sich tragen; den weltoffenen Patrioten, der in Deutschland (bei Max Bruch) und Frankreich (bei Maurice Ravel) studierte, um dann eine spezifisch englische Musiksprache zu entwickeln; den fortschrittlichen Traditio­nalisten, der bei manchen Werken der jüngeren Generation ostentativ einzuschlafen pflegte, gleichzeitig aber das herumschlampende London Philharmonic Orchestra mit seiner ganzen Autorität dazu anhielt, dem Neuling Britten und seinem Werk „Our hunting fathers“ eine faire Chance zu geben.

Eine solche Chance hätten neben den Symphonien auch viele ebenso originelle wie gelungene Werke Vaughan Williams’ verdient: „Flos Campi“ etwa für Solobratsche, Chorvokalisen und kleines Orchester, die Liedzyklen „Songs of Travel“ und „On Wenlock Edge“ (letzterer mit Klavierquintettbegleitung) oder die einaktige Oper „Riders to the sea“. Groß scheinen die Hoffnungen in die Exportchancen des großen Engländers allerdings nicht zu sein: Die DVD ist nur im englischen Original verfügbar, Untertitel Fehlanzeige.

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