Das Gesprächskonzert ist in Verruf geraten. So wie überhaupt der Begriff „Vermittlung“ Gefahr läuft, hinter vorgehaltener Hand zum Unwort zu mutieren. Manchem Hüter des Diskurses über die Zukunftsfähigkeit der Kulturform Konzert erscheinen die einführenden Worte entweder zu substanzlos, vielleicht gar anbiedernd, oder zu speziell, durch Fachbegriffe elitär sich abschottend. Oder aber, sollte die Vermittlung tatsächlich einmal gelingen, könnte sie sich zu sehr aufdrängen, zur Hauptsache werden, die eigentliche Aufführung aber im Wahrnehmungshintergrund verschwinden – eine Horrorvorstellung, fürwahr.
Von solch tiefschürfenden Überlegungen war man bei Radio Bremen Mitte der 1970er-Jahre Gott sei Dank noch nicht angekränkelt. Und realisierte eine Serie, deren Konzept schlichter und einleuchtender kaum sein könnte. Mit Alfred Brendel holte man einen ausgewiesenen Kenner und hellsichtigen Schubert-Interpreten vor die Kamera. Der setzte sich, mit Manuskripten gut vorbereitet, an den Flügel und gab in etwa zehn Minuten seine kurzweilige, dabei aber durchaus nicht vereinfachende Sicht auf eines der Schubert’schen Klavierwerke seit 1822 wieder, bevor er das jeweilige Stück dann auch komplett spielte.
Acht Sonaten, die Wandererfantasie, die Impromptus op. 42 und 90, die Moments musicaux und die Klavierstücke D 946, dazu 13 Einführungen: Auf 5 DVDs (Medici Arts) ist nun zu bestaunen, wie Brendel mit großem Ernst eine Lanze für den lange im Schatten Beethovens vernachlässigten Klavierkomponisten Schubert bricht, wie er sich mit hinter der dicken Brille spitzbübisch blinkenden Augen über Missverständnisse der Rezeption mokiert, wie er an konkreten Details Eigenarten von Schuberts Klaviersatz, Formverständnis oder Harmonik anschaulich macht.
Das „vertrottelte Schubert-Porträt“ eines Rudolf Hans Bartsch, dessen Roman „Schwammerl“ die Vorlage für Heinrich Bertés „Dreimäderlhaus“ war, spießt er ebenso genüsslich auf, wie die bahnbrechende Charakterisierung „Schuberts Musik“ gleiche „den lieblichen Konturen der österreichischen Landschaft“. Brendels in sich hineingrinsender Kommentar dazu: „Dieser Satz stammt nicht von mir. Ich zitiere ihn nur, um Ihnen Gelegenheit zu geben, meinen Ärger darüber zu teilen.“
Weitere Vorurteile kontert er ebenso lapidar wie treffend: etwa den häufig fälschlich (und falsch zitierend) aus Schumanns Diktum zur großen C-Dur-Symphonie abgeleiteten Vorwurf der „himmlischen Längen“: „Auch Schubert konnte konzentriert sein, wenn es ihm angebracht erschien. Dass er es vor allem in den Instrumentalwerken der letzten Jahre oft nicht war, hatte seine guten Gründe.“ Oder das schwammige Etikett vom poetischen Stil in Schuberts Sonaten: „Einem Sonatensatz, der poetisch genannt wird, wirft man eigentlich etwas vor, nämlich, er hätte Miniatur bleiben sollen. (…) Schuberts Sonaten sind keine Poesien, die sich in die Instrumentalmusik verirrt haben.“
Auch für das im Vergleich zu Beethoven ganz anders geartete Formverständnis Schuberts findet Brendel prägnante, dabei die Komplexität der Sachverhalte keineswegs nivellierende Worte: „Selbst in den chaotischsten Augenblicken spendet Beethoven zugleich den Trost seiner Ordnung, Schubert entzieht uns diese Sicherheit. Was in Schuberts Musik vorgeht, widerfährt der musikalischen Form so unmittelbar, dass diese zuweilen bis an den Rand der Auflösung gerät.“
Hier und in anderen Umschreibungen für besondere Momente in Schuberts Werken kommt der Dichter Brendel zum Vorschein. Den berühmten Triller im Kopfsatzthema der B-Dur-Sonate sieht er nicht wie Dieter Schnebel als „störenden Fremdkörper“, oder wie August Halm „als bewegenden Faktor im Vergleich zur Unbeweglichkeit des Themas“, „sondern als eine zum Thema gehörende dritte Dimension, in deren Tiefe wir hineinhorchen. (…) In der Pause verliert sich der Klang sozusagen im Unendlichen. (…) Nicht Kontinuität wird hier unterbrochen, sondern Beziehung zwischen Musik und Stille hergestellt.“
Wie in anderen Sonaten, so wiederholt Brendel auch hier die Exposition des Kopfsatzes nicht. Mit seiner Argumentation („weil das Material hier sehr breit exponiert ist und weil mich die Rückleitungen in den Anfang nicht überzeugen“) muss man nicht konform gehen, um sie als Auffassung eines mit Schubert geradezu intim vertrauten Interpreten zu respektieren.
Die Einspielungen selbst halten das hohe Niveau von Brendels Kommentaren, die Klangqualität kann freilich mit derjenigen der beinahe zeitgleich entstandenen Philips-Aufnahmen nicht konkurrieren. Brendel bei der Schubert-Exegese zuzusehen, ist aber mehr als eine Entschädigung dafür. Und ihn vorher über Schubert reden zu hören, tut dem Erleben dessen keinen Abbruch, was Reinhard Schulz einmal sehr treffend umschrieben hat: „So rumoren (Schuberts) Arbeiten als Übertritt. Sie verstören als Schönheit. Dafür hat er gelebt.“