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Experimentalchor Alte Stimmen ab 70
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Wie klingt ein leerer Himmel?

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„Das Lied des Lebens“ – ein Film über Bernhard Königs Arbeit mit älteren Menschen
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Auch in ihrem letzten Lebensviertel sollen Menschen singen dürfen: Der Komponist Bernhard König arbeitet gern mit alten Stimmen. Die Filmemacherin Irene Langemann hat ihn mit ihrem Team bei einem Langzeitprojekt begleitet Macht das Spaß!“ ruft die alte Dame aus, nachdem sie zusammen mit dem Komponisten Bernhard König einen Walzer am Klavier improvisiert hat. Sigrid Thost ist blind. Die ehemalige Psychologin lebt im Stuttgarter Generationenzentrum Sonnenberg, das Bernhard König regelmäßig besucht, um mit den Bewohnern Interviews über ihr Leben zu führen und aus zentralen Elementen der Biographien Kompositionen zu erarbeiten – ihr „Lied des Lebens“.

Das Stück, das er zusammen mit Sigrid Thost entwickelt, nennt er „Der leere Himmel“. Denn die ehemals religiöse Frau hat als Folge der Erblindung auch ihren Glauben verloren. Wie er denn wohl klinge, dieser leere Himmel, fragt König, der neben ihr am Klavier sitzt. „Sehr melancholisch, sehr langsam, sehr getragen“, kommt prompt die Antwort; und dann erlebt man mit, wie die beiden gemeinsam ein Stück improvisieren, in dem dieser Himmel, aus seiner langsamen Leere heraus, allmählich abgleitet in „die Schwärze der Tiefe, der Unterwelt“, wie Sigrid Thost es programmatisch angeregt hatte. Bernhard König nennt sich selbst einen Überzeugungstäter. Schon in seiner Abschlussarbeit auf der Hochschule, erzählt er ganz zu Beginn im einzigen Off-Kommentar des Films, habe er sich mit dem Potenzial alter Stimmen befasst. Was wir im Film sehen – aber das erfährt man nur aus dem Presseheft – ist Königs Arbeit an einem mehrjährigen Forschungsprojekt, das ihm durch eine private Stiftung ermöglicht wurde.

Ein Teil des Projektes besteht in der Arbeit mit den musikalischen Biographien im Haus Sonnenberg. Ein anderer ist ein Chor in Köln, den König eigens zu diesem Anlass gegründet hat und in den nur aufgenommen wird, wer mindestens siebzig Lebensjahrzehnte hinter sich gebracht hat. Auch in diesem Chor – dem man anhört, dass die meisten, wenn nicht alle seiner Mitglieder über langjährige Gesangserfahrung verfügen – arbeitet König, unterstützt von zwei Kolleginnen, mit biographischen Elementen, die er teilweise in Gruppenchoreographien verarbeitet. Da man sich auf ein großes Abschlusskonzert in der Essener Philharmonie vorbereitet, wird der Untergang des Bergbaus zum Anlass für einen chorisch-choreographischen Abgesang auf das Grubenwesen. In einer anderen Gruppenimprovisation sollen die Chormitglieder sich an Kriegserlebnisse aus der Kindheit erinnern und gestisch „Angst haben“ spielen. Die Sänger/-innen machen, sehr offen, zunächst alles mit. Im Anschluss an die Angst-Improvisation aber wird entschiedener Protest geäußert. Übereinstimmend erklären die über Siebzigjährigen, das habe man alles lange hinter sich gelassen, und Angst sei in ihrem jetzigen Alter überhaupt gar kein Thema mehr.

Es ist schön, dass Regisseurin Irene Langemann auch diese Szene mit aufnimmt, da sich darin zeigt, dass es, bei allem Respekt und aller Zuwendung, eben nicht leicht ist, zu verstehen, wie Altsein sich wirklich anfühlt, wenn man es noch nicht ist. Selbst für einen wie Bernhard König nicht, der durch Langemanns Film ein bisschen wie ein Heiliger geht und insgesamt leicht überrepräsentiert ist. Ja, es ist schon großartig zu sehen, wie einfühlsam und achtsam ein Musikprofi wie er mit diesen Menschen umgeht, die manchmal eine eigene musikalische Vergangenheit haben, manchmal aber auch nicht, und für alle einen passenden Ansatz im Umgang mit der Musik findet. Doch dadurch, dass der Film abgesehen von jener Eingangspassage gänzlich ohne Off-Text arbeitet und König alle Interviews selbst übernimmt, dominiert er im Ganzen sehr. Und natürlich ist es eine tolle Arbeit, die er da leistet; doch ihn so dominant ins Zentrum zu stellen scheint dem ja auch sozialen Ansatz des Projektes nicht völlig angemessen.

Aber das hängt natürlich auch damit zusammen, dass es eine recht merkwürdige Schnittstelle ist, die König da besetzt. Vieles an seiner Arbeit ist musiktherapeutisch, doch mischt sich die Therapie kreativ mit einem durchaus ernsthaften künstlerischen Anspruch: Das ist ein gemeinschaftlich unternommener Arbeitsprozess, den der Komponist selbst sehr gezielt steuert. Er nimmt die Biographien und Anregungen seiner Interviewpartner ernst, und die musikalische Umsetzung von Schlüsselsituationen aus ihren Lebensläufen hat, wie man ein ums andere Mal beobachten kann, oft kathartische Wirkung. Diesen sehr emotionalen Vorgang vor der Kamera öffentlich zu machen, erfordert von den Beteiligten besonderes Vertrauen nicht nur in die Musiker, sondern auch in die anwesenden Filmleute. Denn oft ist man so dicht dran, als wäre man selbst dabei.

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