Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber noch Mitte der 80er wurde man von Provinzredakteuren für einen „Außerirdischen“ gehalten, wenn man Begriffe fallen ließ wie „Soundtrack“ oder gar „Score“ und dann auch noch darüber schrieb. Selbst von Intellektuellen musste man sich fragen lassen, warum man sich für Filmmusik interessiere.
Aber sehr bald sollte sich das ändern, als plötzlich Avantgardisten wie John Zorn Ennio Morricone für sich entdeckten und die audiovisuellen Medien immer mehr ins Zentrum rückten. Heute präsentiert eine Radiowelle des BR den „Soundtrack deines Lebens“. Und jeder weiß, was gemeint ist. Damals jedenfalls musste man sich das ganze Wissen noch selbst zusammensammeln, aus ein paar schon damals überholten deutschen Publikationen und amerikanischer Fachliteratur, die meistens biografisch angelegt war. Lehrstühle für Filmmusik gab es noch nicht. Erst in den späten 80ern analysierte Claudia Gorbman die „unheard melodies“ des Kinos, begann Royal S. Brown mit seiner postmodernen Lesart der „overtones and undertones“ in der großen Montagekunst des 20. Jahrhunderts. 1997 schließlich erschien auch in Deutschland das erste moderne Standardwerk „Komponieren für Film und Fernsehen“ von Norbert Jürgen Schneider. Als audiovisuelle Ergänzung gewissermaßen ist nun exklusiv bei Zweitausendeins in der DVD-Reihe „Filme sehen lernen“ ein Filmmusik-Crashkurs erschienen. Herausgeber Rüdiger Steinmetz gelang es dabei erneut, viele Filmausschnitte zu lizenzieren. Und so ist diese Doppel-DVD mit einer Gesamtspielzeit von fünf Stunden ein „must“ für Einsteiger und Fortgeschrittene.
Seit „The Artist“ rückt plötzlich wieder der Stummfilm ins Rampenlicht. Und man muss dazu immer erklären, dass es ein „Stummfilm mit Musik“ ist. Und dann beginnen die Fragen. Gab es denn damals auch schon Filmmusik? Ja, und am liebsten würde man dem Fragenden sofort diese DVD in die Hand drücken. Dort erfährt man, dass die erste Filmmusik bereits vor über 100 Jahren entstand. Camille Saint-Saëns komponierte sie 1908 für „L’Assassinat du Duc de Guise“. Aber auch Satie, Hindemith, Prokofieff oder Schostakowitsch schrieben für das Stummfilmkino. Genauso wie Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender oder Edmund Meisel, dessen großartiger Score zu Eisensteins „Oktober“ gerade auf der Berlinale wiederaufgeführt wurde. 1927 begann mit „The Jazz Singer“ die Tonfilmrevolution. Die ersten „Talkies“ waren noch „Zwitter“, teils Stummfilm mit Musiktonspur, teils mit kleinen Dialogsequenzen. Bei der Ufa kam der Durchbruch 1930 mit „Der Blaue Engel“ und den vielen innovativen Tonfilmoperetten, die Erich Pommer, der von Anfang an die „Musikalisierung des Kinos“ propagierte, bis 1933 produzierte, als die Ufa „entjudet“ wurde. Und die Amerikaner ihre eigene Erfindung, das Filmmusical, zum Blühen brachten. Um diese Zeit begann auch das „Goldene Zeitalter der Filmmusik“, das geprägt wurde von dem Wiener Max Steiner und den vielen mitteleuropäischen Komponisten, die vor den Nazis fliehen mussten, Franz Waxman, Miklós Rózsa oder Erich Wolfgang Korngold, der auch Pate stehen sollte für eine Renaissance der klassischen Filmmusik in den späten siebziger Jahren, als John Williams mit seinem „Star Wars“-Score die alten Rezepte wieder übernahm.
Aber natürlich geht es in diesem Kurs um so viel mehr, um Raum, Zeit und Klang im Film, um die Grundelemente (Leitmotive, Ouvertüre, Thema) oder um die Grundfunktionen (Mickey-Mousing, Atmosphäre herstellen oder Geräusche integrieren). Selbst um die bereits vorhandene Musik, die „temp tracks“ oder Songs, geht es in dieser Lektion. Das kleine Büchlein dazu liefert ein Glossar. Alle wichtigen Fachbegriffe werden darin erläutert: Diegese, Dramaturgie, Mood-Technik, Ondes Martenot, Semi-Talkie, Source Music oder Temp-Tracks. Und besonders schön sind auch die vielen eingestreuten Zitate von Filmkomponisten wie etwa Zbigniew Preisner, der sehr treffend die Sackgasse beschreibt, in die der moderne Hollywood-Sound geraten ist: „Heutzutage versucht Hollywood, jede musikalische Individualität zu ersticken. Dort versucht man, Musik zu schreiben, die jedermann gefällt. Es gibt einen Unterschied zwischen Europa und Hollywood. In Europa nehmen der Regisseur und sein Team gewöhnlich das Risiko auf sich, eine individuelle Sicht zu präsentieren. Sie genießen eine künstlerische Freiheit.“ Weil Hitchcock bereits Mitte der Sixties zu sehr nach einem vermeintlichen Publikumsgeschmack geschielt hatte, war sogar seine musikalische Freundschaft mit seinem Hauskomponisten Bernard Herrmann zerbrochen. Selbst ein Genie wie Hitchcock glaubte schon damals, als das Studiosystem am Ende war, sich diesen „Anforderungen“ fügen zu müssen. Um wie viel härter ist es heute geworden in diesem Universum von „Sound & Vision“. Für den aber, der einsteigen will in diese Welt, als Zuhörer oder als Profi-Musiker, ist diese Doppel-DVD der ideale Dietrich.