Pierre Monteux (1875–1964) wurde zu Lebzeiten schon früh zur Legende – nicht nur, indem er aufgrund seines langen Lebens und Wirkens zu den ganz großen Dirigenten der älteren Generation zählte, deren Meisterschaft in einer Vielzahl von Aufnahmen auch relativ moderner Klangqualität überliefert ist, oder als Mentor später so prominenter Kapellmeister wie Igor Markevitch, Lorin Maazel, Seiji Ozawa, Erich Kunzel, David Zinman, José Serebrier, André Previn oder Neville Marriner. Überdies leitete Monteux zu Beginn seiner Karriere zahllose Uraufführungen:
Igor Strawinskys Petrouchka, Le Sacre du printemps und Le Rossignol, von Maurice Ravels Daphnis et Chloë und Tzigane, Claude Debussys Jeux, Florent Schmitts Tragédie de Salomé, Sergej Prokofieffs 3. Symphonie, Nikolai Tscherepnins Orchestration von Schumanns Papillons, außerdem von Ernest Blochs Évocations und Francis Poulencs Concert champêtre, von Werken von Gian Francesco Malipiero, Darius Milhaud, Willem Pijper, Arthur Bliss, Paul Creston, George Antheil, Jean Françaix, Charles Martin Loeffler, Charles Tomlinson Griffes, Leo Smit, Dane Rudhyar und vielen anderen. Die Pariser Skandal-Uraufführung des Sacre du printemps allein, die er scheinbar unbeeindruckt bei einem solchen Lärm zu Ende dirigierte, dass das Orchester selbst für ihn stellenweise nicht mehr zu hören war, diese Aufführung alleine hätte gereicht, um seinen Namen unsterblich zu machen.
Nun liegt die gesamte Ausbeute seiner Aufnahmen für die RCA, entstanden in den zwei Jahrzehnten seines reifen Wirkens zwischen 1941 und 1961 mit den Symphonieorchestern aus San Francisco, Boston, London und Chicago sowie der Opera di Roma, in einer von Sony veröffentlichten Box auf 39 CDs vor, zuzüglich einer Interview-CD, wo sein amerikanischer Gesprächspartner der Faszination für einen Mann Ausdruck verleiht, der noch César Franck, Charles Gounod und Jules Massenet kannte, mit Claude Debussy, Maurice Ravel und Igor Strawinsky vertrautesten Umgang pflegte, und als Bratscher des Geloso-Quartetts 1896 Johannes Brahms vorgespielt hatte. Brahms war, wie uns Monteux’ Witwe Doris in der sehr glaubwürdigen Biographie ‚It’s All in the Music’ versichert, sein Lieblingskomponist. Er selbst hätte gewiss auch noch Beethoven genannt, und auch die Namen Schumann und Wagner wären schnell gefallen. Doch bekannt ist Monteux vor allem für seine Einspielungen französischer und russischer Musik, und er selbst litt darunter, dass man sich bei RCA oder Decca nur am Rande für seine Aufführungen der deutschen Klassiker und Romantiker interessierte.
Zu Beginn war Monteux Bratschist, danach Kapellmeister des Colonne-Orchesters in Paris. Dann engagierte ihn über Nacht Serge Diaghilev für die Ballets Russes, wo er die legendären Premieren der Ballette von Strawinsky, Ravel, Debussy und Schmitt leitete. Anfang der 20er Jahre wurde er daraufhin für fünf Jahre als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra engagiert, wo er den Grundstein für die Erfolge seiner Nachfolger Koussevitzky und Münch legte. Es folgte ein glückliches Jahrzehnt Seite an Seite mit Willem Mengelberg beim Amsterdamer Concertgebouw Orkest. In den dreißiger Jahren stand Monteux außerdem dem Orchestre Symphonique de Paris vor, dessen Aufführungen französischer Musik bis heute als maßstabsetzend gelten. Ab 1936 war er 15 Jahre lang Chefdirigent des San Francisco Symphony Orchestra. Als Charles Münch in Boston das Erbe Koussevitzky antrat, lud er sofort Monteux wieder ein, der nun wieder häufig dort gastierte. Schon vor seiner ersten Bostoner Zeit hatte er an der Met gewirkt, und Mitte der fünfziger Jahre folgte eine zweite Opernphase in New York. 1961 trat Monteux als 86jähriger die Chefstelle beim London Symphony Orchestra an und unterschrieb einen 25-Jahres-Vertrag mit Option auf Verlängerung, was durch seinen Tod durchkreuzt wurde.
Nach fünf Jahren des Aufbaus hatte Monteux 1941 das San Francisco Symphony Orchestra auf ein Niveau gebracht, das erlaubte, in der ersten Liga der amerikanischen Orchester mitzuspielen, und die ersten zehn CDs der vorliegenden Anthologie enthalten sämtliche bis 1951 entstandenen Schellack-Aufnahmen. Die früheste LP-Aufnahme, Rimsky-Korsakovs Scheherazade mit dem legendären Konzertmeister-Solisten Naoum Blinder, wurde 1942 eingespielt und 1950 zeitgleich mit Beethovens Zweiter Symphonie vom Vorjahr erstveröffentlicht, dicht gefolgt von der zweiten Aufnahme von Francks d-moll-Symphonie und Berlioz’ Symphonie fantastique.
Unter den Schellack-Dokumenten findet sich viel Rares: Vincent d’Indy (das Klavierkonzert ‚Symphonie sur un chant montagnard français’ mit Maxim Schapiro, die 2. Symphonie, die Istar-Variationen und das Fervaal-Prélude) in absolut vorbildlicher Darbietung; César Francks ‚Pièce héroïque’ in der Orchestration Charles O’Connells; Edouard Lalos Ouvertüre zu ‚Le Roi d’Ys’, vom Kollektiv mit einer innigen Vertrautheit dargeboten als handele es sich um eine Weber-Ouvertüre; die Sadko-Suite, die ‚Antar’-Symphonie und Stücke aus dem ‚Märchen vom Zaren Saltan’ und dem ‚Goldenen Hahn’ von Rimsky-Korsakov; Darius Milhauds launige 2. Symphonische Suite; Jacques Iberts ‚Escales’; und das exotisch getönte Violinkonzert Louis Gruenbergs (1884-1954) mit Jascha Heifetz, der auch Chaussons Poème spielt. Yehudi Menuhin ist mit Lalos ‚Symphonie espagnole’ und dem ersten Violinkonzert von Max Bruch dabei, die Altistin Marian Anderson mit Brahms’ Altrhapsodie (interessanterweise ist auch ihre fünf Jahre spätere LP-Aufnahme desselben Werks mit Fritz Reiner, in Kopplung mit Mahlers Kindertotenliedern mit Monteux, in der Box enthalten).
Einige Werke sind sowohl in Schellack- als auch in LP-Einspielungen vertreten: Francks d-moll-Symphonie, Berlioz’ Symphonie fantastique und Benvenuto Cellini-Ouverture, Gigues und Rondes du printemps aus Debussys ‚Ibéria’, Strawinskys ‚Sacre du printemps’, Brahms’ 2. Symphonie und Scriabins ‚Poème de l’extase’; die anderen sind nur in der klanglich armseligeren Schellack-Fassung gemacht worden, also neben den Raritäten auch ‚La Valse’, ‚Alborada del Gracioso’, die ‚Valses nobles et sentimentales’ und die erste Orchestersuite aus ‚Daphnis et Chloë’ von Ravel, Debussys Sarabande aus ‚Pour le piano’ in Ravels Orchestration, Berlioz’ Vorspiel zu ‚Les Troyens à Carthage’ und Ungarischer Marsch, Chabriers ‚Fête polonaise’, Gounods Ballettmusik aus ‚Faust’, Mendelssohns ‚Ruy Blas’-Ouvertüre und Richard Strauss’ ‚Heldenleben’.
Allein der Reichtum dieser frühen Aufnahmen ist schier unerschöpflich und eine Sache, um die niemand herumkommt, der Dokumente authentischen Musizierens vor allem der französischen und russischen Musik jener Zeit hören möchte, die Monteux als junger Mann noch erlebt hat. Es kann kein Zweifel bestehen, dass hier ein unmittelbarerer Bezug zur ursprünglichen Klang- und Ausdruckswelt eines César Franck, Edouard Lalo, Vincent d’Indy, Ernest Chausson, Claude Debussy oder Maurice Ravel, eines Igor Strawinsky, Nikolai Rimsky-Korsakov oder Alexander Scriabin hergestellt ist als in fast allen anderen historischen Dokumenten, wenn man einmal von Dirigenten wie Inghelbrecht, Gaubert, Wolff oder Coppola absieht, die allerdings nicht ganz über die sachliche Präzision und stilistische Vielseitigkeit Monteux’ verfügten. Er selbst war überzeugt, durch Colonne den Tonfall Berlioz’ quasi aus erster Hand empfangen zu haben, und der heutige Hörer kann sich selbst überzeugen, was das bedeutet, wie abenteuerlich, als sei sie gerade eben entstanden, diese Musik unter seiner Stabführung erklang.
Monteux war kein bisschen sentimental, stets elegant, befeuernd, freudig animierend, und auch immer kantabel im Ausdruck, der weit über Jean Martinons seriöser Kantigkeit steht und mit der angeblich authentischen, unterkühlt statischen Sachlichkeit von Leuten wie Boulez und seinen Nachfolgern, die heute oft als authentisch verstanden wird, so gar nichts zu tun hat. Und gerade bei Strawinsky, dessen absoluter Favorit Monteux zur Zeit des Sacre war, wird mancher vielleicht mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, wieviel sinnlicher und märchenhaft-farbenreicher diese Musik wirkt als später unter Markevitch, und wie immens humoristisch und facettenreich ohne billig-plakativen Primitivismus die Petrouchka unter dem Geburtshelfer selbst erklang.
In der LP-Ära werden dann die Raritäten deutlich in den Hintergrund gedrängt – da ist die grandios leidenschaftliche und dabei so unbestechlich klar und präzise erfasste Symphonie in B-Dur von Ernest Chausson zu nennen wie auch dessen ‚Poème de l’amour et de la mer’ mit der leuchtkräftigen Stimme von Gladys Swarthout (mit der Recital-Extrakte von Berlioz, Reynaldo Hahn, Debussy, Duparc, Paul Hillemacher, Jean Clergue und Poulenc mit dem Pianisten George Troville beigegeben sind), Bachs Passacaglia in c-moll in der glanzvoll mächtigen Orchestration von Ottorino Respighi (eines von Monteux’ Paradestücken), und – damals Mainstream, heute weitgehend vergessen – die duftigen Ballettsuiten aus Léo Delibes’ ‚Sylvia’ und ‚Coppélia’. Ansonsten gibt es, in prachtvoll straffen, brillant durchstrukturierte Aufführungen viel Standardrepertoire: die Symphonien Nr. 4, 5 und 6 von Tschaikowsky (mit erlesenem Geschmack, knackigem Rhythmus und gezügeltem Feuer ausmusiziert), Debussys Images, La mer und Trois Nocturnes, Beethovens 2., 4. und 8. Symphonie sowie die Ouvertüre zu den ‚Ruinen von Athen’ (mit seltener Clarté und nicht ohne Poesie), Schumanns 4. Symphonie (mit gebändigt-unbändigem Drängen), Brahms’ Schicksalslied (hinreißend tiefgründig) und 2. Symphonie, Liszts ‚Les Préludes’, Strauss ‚Tod und Verklärung’ und Wagners ‚Siegfried-Idyll’, Strawinskys ‚Petrouchka’ und ‚Sacre du printemps’ in wegweisend vielschichtiger Manier, Rimsky-Korsakovs ‚Scheherazade’ mit wahrhaft orientalisch farbenreicher Geschmeidigkeit, ein fulminant beherrschtes und verzauberndes ‚Poème de l’extase’ von Scriabin, ein drittes Mal César Francks Symphonie (die finale Einspielung aus Chicago, seine letzte, gilt zu Recht als Meilenstein der umfangreichen Diskographie und hatte noch 1961 eine solche Kraft des unergründlich Neuartigen, dass man sich fragen kann, woher der greise Maestro diese Frische und Unverbrauchtheit nahm…), und last not least die Sinfonia aus Bachs ‚Weihnachts-Oratorium’ mit feierlicher Beschwingtheit. Zu den berühmtesten Dokumenten zählen die beiden Produktionen aus der Opera di Roma: Verdis ‚La Traviata’ (mit Rosanna Carteri, Cesare Valletti und Leonard Warren) und Glucks ‚Orfeo ed Euridice’ (mit Risë Stevens, Roberta Peters und der überragenden Lisa Della Casa), die Monteux als exzellenten Meister des Opernfachs ausweisen, insbesondere in der Natürlichkeit und beherrschten Finesse seiner Verdi-Darstellung.
Der kleine Maestro Monteux dirigierte mit der Schärfe, dem Schwung und Schneid, und der Präzision eines Fechtmeisters. Seine Klangvorstellung war zeitlebens geprägt vom Streichquartettspiel, das er als führender Bratschist Europas in seiner Generation auf höchstem Niveau betrieb. Daher die bewegliche Flüssigkeit des Vortrags, das unmittelbare Verständnis der mehrstimmigen Verläufe und kadenzierenden Strukturen, das lineare Verstehen als Priorität. So war er auch den Solisten mit seinem Orchester eher ein ebenbürtiger Kammermusikpartner als ein neutraler Begleiter – was sich in drei herausragenden Begegnungen hier nachvollziehen lässt: Im April 1953 nahm Monteux in Boston mit Lili Kraus Mozarts Klavierkonzerte A-Dur KV 414 und B-Dur KV 456 (mit dem magischen g-moll-Andante) auf – ein vollendeteres Mozartspiel als dasjenige Kraus’ lässt sich nicht finden, in der wendigen Lebendigkeit, glaskaren Gegenwärtigkeit, lyrischen Innigkeit und weitgespannten Gestaltungskraft, und Monteux geht mit und erreicht mit ihr eine Tiefe und Höhe mannigfaltiger Schlichtheit, wie sie Mozart einmalig verkörperte, doch sonst kaum einmal von seinen Deutern erreicht wird.
Im Januar 1958 kam Leonid Kogan nach Boston und spielte neben einem hinreißenden Chatschaturian-Violinkonzert die Havanaise von Saint-Saëns. Und dann, im Juni 1958 mit dem London Symphony Orchestra in der Kingsway Hall, Henryk Szeryng mit dem Violinkonzert von Johannes Brahms: Der im mexikanischen Exil eingebürgerte polnische Geiger stand im absoluten Zenit seiner geigerischen Größe und musizierte mit einer einmaligen Schönheit, Klangfülle, Perfektion und Präsenz – besser gegeigt wurde nie, und auch als substantiell gestaltender Musiker erreicht Szeryng hier im Kopfsatz im Verbund mit Monteux und einem vollendet sich hingebenden Orchester eine Klasse, die ehrfurchtgebietend ist. Bilanzierend ist zu sagen, dass eigentlich jede Aufnahme in dieser Box hochkarätig ist, und dass die Anschaffung dieser mit einem trefflichen Booklet-Büchlein ausgestatteten Monteux-Anthologie, die in vielen der beinhalteten Werke zeitlosen Referenzstatus beanspruchen kann und zudem sehr preisgünstig zu erwerben ist, allen ernsthaft Interessierten nachdrücklich zu empfehlen sei.
Sony Classical CD 888430 734821(40 CDs)