Ende Juli leitet Kent Naganao mit dem „Parsifal“ seine letzte Vorstellung als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Zum Abschied vom Staatsorchester legt er bei Farao Classics eine Neuaufnahme von Bruckners 8. Symphonie vor.
Ein Orchester – ein Opernorchester zuerst und allzumal –, dessen Anfänge im Kern auf das Jahr 1523 zurück gehen –, versteht mehr von der Macht der Gefühle als manch jüngerer Klangkörper. Was die Kraft der Intelligenz nicht schmälert. So besehen waren Kent Naganos sieben Münchener Jahre sieben nahezu magische Jahre. In denen sein Orchester – das Bayerische Staatsorchester – manches der Zeitgenosssenschaft verpflichtete Werk von Messiaen bis Widmann, von Wolfgang Rihm, Unsuk Chin bis Moritz Eggert ebenso in großer Klarheit erarbeitete wie die große Romantik in ungewohnter Nagano Ausprägung im vielleicht schönsten Konzertsaal der Stadt – dem Nationaltheater.
Als Wagner-Uraufführungsorchester wurde die Tradition über zwei Jahrhunderte einerseits weitergereicht – andererseits auch aus dem jeweils tagesaktuellen Polit-Bewusstsein heraus weiterentwickelt – von Knappertsbusch, Sawallisch etwa bis Nagano dokumentiert. Mögen die Münchner Philharmoniker nicht nur im eigenen Selbstverständnis das Bruckner-Orchester der Stadt sein, das Bayerische Staatsorchester lässt uns die größere Bandbreite erleben. Wer sein eigenes Bruckner-Klangbild vor Augen und im musikalischen Gedächtnis hat, abgefedert durch Celibidaches Zelebrationen etwa oder die Achte mit dem neunzigjährigen Günter Wand kurz vor dessen Abschied von diesem Planeten, dem mag irdische Spiritualität in aller Wucht und Gewichtigkeit sich eingegraben haben, Choralkaskaden und Kontrapunktik kompakt. Oder wer an Eugen Jochum denkt, mit den Berliner Philharmonikern oder dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: auch da sind Grenzbezirke eingezeichnet in die Landkarten der Interpretationsgeschichte. Und das ist immer wieder tief und anders und in sich stimmig und dem überlieferten Bruckner-Bild folgend, mal da, mal dort anders akzentuiert, ins Skurrile gewendet oder als gigantischer Aufschrei gegen alle Ungerechtigkeiten dieser Welt geblasen, gedonnert, getrommelt und gestrichen.
Das alles findet sich bei Kent Nagano so nicht. Klar, da wo Bruckner erdennahes Fundament fordert, da bleibt Kent Nagano dem Anton Bruckner nichts schuldig. Da aber wo andere in die Gigantomanie der hochgebirgigen Klangschichtungen einsteigen und der Überlieferung ihren übersteigernden Tribut zollen, da eröffnet das Staatsorchester mit Nagano Einblicke in Regionen, die zuvor keiner geschaut hat, die zu musikalischem Leben zu erwecken es offensichtlich der Lebenswege des Weltbürgers Nagano bedurfte, die glücklicherweise über München führten. Was er an zartesten Regungen, aus sensibelster, mikroskopisch geweiteter Detailanalyse heraus Musik werden lässt, was er da, wo geschichtet werden muss – qua Partitur –, architektonisch in Spannung versetzt, das sucht seinesgleichen. Und findet nicht dergleichen. Seine analytische Detailarbeit und die strukturelle Klarheit haben dem Orchester ein neues Kapitel eingeschrieben in seinem opulenten Geschichtsbuch.
Dieser Bruckner lässt sich leicht ablehnen: zu leicht, zu zart, zu filigran, zu langatmig. Doch wer seine eigenen Vorurteile hinter sich arbeitet und dem Bayerischen Staatsorchester sowie Kent Nagano sein Gehör samt Gehirn schenkt, dem begegnet eine (alte) neue Musik. Zumal in den Urfassungen der Vierten und der Achten. Das ist Arbeit, die sich lohnt. Das kostet Zeit. Das ist aber und allemal ein Investment, dessen Rendite Erkenntnisgewinn garantiert.
Anton Bruckner: Symphonie Nummer 8 (Urfassung)
Bayerisches Staatorchester, Kent Nagano
Farao Classics B 108075
Auch in einer 4-CD-Box enthalten:
Anton Bruckner Symphonien 4 (Urfassung), Nr. 7 und Nr. 8 (Urfassung)
Bayerisches Staatorchester, Kent Nagano
Farao Classics B 108074 (4 CDs)
A 108076 (pure Audio Blu-ray)