Mit der für das Porteño-Spanisch so typischen Diminutionsform „Tango Operita“, also „Tango-Operchen“, haben Texter Horacio Ferrer und Komponist Astor Piazzolla 1968 versucht anzudeuten, worum es sich bei „María de Buenos Aires“ handelt. Genützt hat das wenig, 55 Jahre danach bleibt die Frage, was dieses Werk eigentlich genau ist, ebenso ein Rätsel wie die Titelfigur.
María steht einerseits für die mythische Entstehungsgeschichte des Tango, der aus den Spelunken der Vorstädte kommend in der Metropole Fuß fasst, andererseits ist sie Projektionsfläche für eine ganze Palette an Frauenbildern zwischen Hure und Madonna („Vergessen bis du unter allen Frauen“).
Das wenige Vage, was der Text (kein „Libretto“ im eigentlichen Sinne) an Handlung andeutet, ist kaum auf der Bühne konkretisierbar: Marías Geburt, ihr Ankommen in der Stadt, ihr Zugrundegehen am Tango und seiner instrumentalen Verkörperung, dem Bandoneón, ihre Wiederauferstehung als Schatten, der eine neue María gebiert… Regisseurin Sommer Ulrickson hat daraus die kluge Konsequenz gezogen, es gar nicht erst damit zu versuchen. Zusammen mit María Bayarri Pérez hat sie stattdessen ein dichtes Tanz- und Bewegungstheater konzipiert, das Räume für Assoziationen offen hält.
Mireia Vila Soriano und Alexander Polzin haben hierfür drei konzentrische, schwarz-weiß bemalte Rondelle auf die Drehbühne gestellt, deren Stoff-Innenwände optisch reizvolle Durchblicke erlauben. Als einzige konkrete Anspielung auf den geografischen und kulturhistorischen Hintergrund des Stücks blickt von dort aus der große Tangokomponist Enrique Santos Discépolo in den Zuschauerraum.
Eine weitere radikal richtige Entscheidung Ulricksons ist es, keinen Tango tanzen zu lassen, und uns so die damit einhergehenden Netzstrumpf-Klischees zu ersparen. Einzig der als Erzähler durchs Stück führende Duende (bei Ulrickson ist dieser urbane Kobold ein Laudanum in sich hineintröpfelnder Clochard) versucht eine Tänzerin zum Tango zu zwingen. Sein übergriffiger Machismo wird von den anderen Tänzern prompt bestraft.
Sie alle stehen, so das Regiekonzept, für die Person Marías, was szenisch allerdings nur dann wirklich deutlich wird, wenn sie aus der Gruppe heraustretend die Lippen zum Gesang der eigentlichen María-Darstellerin bewegen. Fabiana Locke macht das von Ausstrahlung und Stimmtimbre her ausgezeichnet, einzig bei den Konsonanten hätte das Sprachcoaching noch etwas intensiver sein dürfen. Als Muttersprachler mit viel Gefühl fürs tangospezifische Singen glänzen hier Carlos Moreno Pelizari (Payador) und Alejandro Nicolás Firlei Fernández (Porteño Gorrión).
Die deutsch-spanische Mischfassung funktioniert insgesamt nicht schlecht, der überzeugende Thomas Mehlhorn in der deutschen Sprechrolle als Duende hätte aber die poetischen Fundstücke und die Passagen intelligent-fatalistischen Humors innerhalb von Ferrers mitunter allzu ausufernden Textmengen noch stärker akzentuieren können.
Getanzt wird grandios: modern, ausdrucksstark, ohne in abgegriffene Bewegungsmuster zu verfallen. Ein Glanzstück sind die drei zuckenden Marionetten im zweiten Teil, der mit dem köstlichen Auftritt der Psychoanalytiker (eine Anspielung auf diesen in Buenos Aires in Rekordzahl vertretenen Berufsstand) szenisch nochmal richtig Fahrt gewinnt. Das liegt auch an der Musik, bei der Piazzolla sich hier öfter als im ersten Teil nicht nur auf seine rhythmische Prägnanz und melodische Genialität verlässt, sondern seinen Tango nuevo auch einmal impressionistisch ausfasern lässt.
Andreas Kowalewitz hat das elfköpfige Ensemble aus Mitgliedern des Philharmonischen Orchesters gut auf diesen sehr speziellen Tonfall eingestellt und leitet es vom Klavier aus sicher durch den Abend. In Sachen Klangbalance ist das Marimbaphon allerdings – so sehr es im berühmten „Fuga y misterio“, dem instrumentalen Höhepunkt des Werks, auch für Stabilität im zunächst leicht ruckelnden Fugengebälk sorgt – leider meist zu laut, die Flöte zu leise. Entscheidend ist aber, dass Konstantin Ischenko mit seinem Spiel einem Bandoneón so nahe kommt wie es mit einem Akkordeon nur eben geht.
Eine überraschende Pointe hinter diesen angesichts des heiklen Stücks erstaunlich gelungenen Abend setzte Kowalewitz übrigens noch bei der Premierenfeier: mit einem sorgsam ausformulierten Dankeschön ans Team nebst liebevollen Spitzen und herrlichen Reimen.