„Núcleos“, nicht einfach Musikschulen, nennen die Venezolaner die Zentren ihres landesweiten Systems von Kinder- und Jugendorchestern – womit bildhaft ausgedrückt ist, dass es hier um mehr geht als die Unterweisung im Instrumentalspiel: Zellkerne einer neuen Gesellschaft sollen sie sein. Musikalische Bildung als Menschenbildung – dieses Credo steht auch über dem Dokumentarfilm „El Sistema“, der heute (16. April) in den Kinos anläuft.
Dass dies ein filmisch ergiebiges Thema sein würde, dürften Paul Smaczny und Maria Stodtmeier schnell gemerkt haben. Entsprechend pittoresk sind die Nahaufnahmen mit den Kindern und Jugendlichen am Instrument, und die Gegenschnitte vom Alltag zwischen Armut und Gewalt zu den Auftritten des mittlerweile international herumgereichten Vorzeigeorchesters unter Gustavo Dudamel werden mit viel Bedeutung aufgeladen. Der Film – auch ein allmählich scharf gestellter Stacheldraht im Vordergrund darf nicht fehlen – entgeht da bisweilen nicht der Gefahr, vordergründiges Pathos auszustellen.
Interessant wird es dann, wenn wir ein Kind einmal näher kennen lernen: den 11-jährigen Trompeter Yobran etwa, der als Teil einer achtköpfigen Großfamilie in bescheidenen Verhältnissen lebt und dessen Mutter genaue Vorstellungen von seiner Erziehung (und der Rolle der Musik darin) hat. Auch die musikalisch bescheidenen Anfänge der Ausbildung werden plastisch, sei es im herrlichen „Papierorchester“, im stimmbildnerisch noch rudimentären Chorgesang oder in einer mehr lauten als schönen Fünften Beethovens. Einen Seitenblick wirft der Film außerdem auf die Integration behinderter Kinder, ohne freilich weit über ein von den Gehörlosen mit ihren weißen Handschuhen gestisch ausdrucksstark umgesetztes „Ave Maria“ hinauszukommen.
Gern hätte man mehr erfahren über die politischen Implikationen des seit über dreißig Jahren sich entwickelnden, hauptsächlich vom Sozialministerium finanzierten Systems; darüber, welche Rolle das musikalische Repertoire zwischen westeuropäischer Klassik und lateinamerikanischen Stücken spielt, oder darüber, was aus denen wird, die in der Qualitätshierarchie der Orchester nicht aufsteigen.
So bleiben als roter Faden eines trotz des Materialreichtums möglicherweise nicht bis zum „Núcleo“ vordringenden Films die Interviewausschnitte mit José Antonio Abreu. Der Übervater des „Sistema“ gibt mit seinen visionären und gleichzeitig sehr konkreten Vorstellungen einen faszinierenden Eindruck davon, was es heißt – so Thomas Rietschel kürzlich in der Laudatio auf Abreu zur Verleihung des Frankfurter Musikpreises – „Träume ernst zu nehmen“.
El Sistema
Ein Film von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier
Länge: 102 min
Drehzeit: April 2007 bis November 2008
Kinostart: 16. April 2009