Wenn nur alle CD-Produktionen derart sorgfältig vorbereitet und in die Tat umgesetzt würden, müsste sich niemand über einen schrumpfenden Klassikmarkt Sorgen machen. Aber wir haben es auch mit einer ganz besonderen Edition (der bereits vierten in der Cybele-Reihe „Künstler im Gespräch“) zu tun.
Zum einen erscheint sie in hochaufgelöster Hybrid-SACD-Qualität, zum anderen haben wir es zugleich mit einem Hörbuch zu tun, und dies im Wortsinne: „Pierre Boulez und das Klavier“ bietet drei Stunden Musik und Gespräche, aber auch ein neunzigseitiges Begleitheft in drei Sprachen, illustriert mit zahlreichen (zuweilen arg klein reproduzierten) Fotos.
Die ausführlichen (behutsam nachträglich bearbeiteten) Gespräche, auf die sich die sympathische Mirjam Wiesemann offensichtlich gut vorbereitet hat, stammen beide aus dem Jahre 2011. Überraschenderweise wurden sie beide in deutscher Sprache geführt; Dimitri Vassilakis verfügt über einen aparten griechisch-französischen Akzent, kann sich aber gewandt ausdrücken, während Pierre Boulez ziemlich leise und mit brüchiger Stimme spricht – in der kurzen (mittels Voice-Over übersetzten) Passage, in welcher er ins Französische wechselt, wirkt er wesentlich eloquenter.
Hier stellt sich die Frage, ob es nicht ratsam gewesen wäre, das insgesamt auffallend wortkarge Interview in seiner Muttersprache zu führen. Jedenfalls äußert er sich weder über persönliche Belange, noch lässt er sich zu Anekdoten über Weggefährten hinreißen. In einer Zeit, in der voyeuristisch erwartet wird, dass Prominente ihr Innerstes nach außen kehren, bewahrt er Diskretion, relativiert unbedachte Äußerungen oder Handlungsweisen früherer Jahre oder verweist sie ins Reich der Legende. Kurz: Er gibt seine Geheimnisse nicht preis.
Das verbindet Boulez, den Menschen, mit seinem relativ schmalen, aber substantiellen Werk, das, hierin sehr französisch, der Poesie im wörtlichen und übertragenen Sinne Raum zur Entfaltung gibt. Er äußert kein Bedauern darüber, dass das Dirigieren und die Lehre (also die Vermittlung von Musik, die er als eine Pflicht ansieht) dem mittlerweile 88-Jährigen so wenig Zeit zum Komponieren (also die Erfindung von Musik) gelassen habe: Es verhalte sich eher so, dass beide Tätigkeiten bei ihm zu Synergieeffekten geführt haben. Es komme schließlich nicht auf die Zahl (oder Gesamtspieldauer) der Werke an, sondern auf deren Qualität – was man auch von zwei Komponisten sagen kann, deren Gesamtwerk Boulez nicht zufällig eingespielt hat: Webern und Varèse.
Viel Zeit hat Boulez, darin Bruckner ähnlich, auch für die Verbesserung bzw. Aktualisierung seiner Werke aufgewendet; andere hat er ganz oder teilweise wieder zurückgezogen. So erklingt die dritte, dem Interpreten gewisse Wahlfreiheiten einräumende Klaviersonate immer noch nicht in der vollständigen Form, in der sie 1957 in Darmstadt uraufgeführt wurde: Drei der fünf sog. Formanten kann man nur im Nachlass zu Lebzeiten einsehen, den die Paul-Sacher-Stiftung in Basel aufbewahrt. Dort liegen auch die drei „Psalmodies“ von 1945, die angeblich noch ganz unter dem Einfluss seines Lehrers Messiaen stehen. Die unmittelbar folgenden „Douze Notations“, sein offizielles Opus Eins, hat Boulez allein schon durch ihre späte (teilweise) Orchestrierung kanonisiert. Sie beruhen jeweils auf einer Zwölftonreihe, passen exakt auf eine Partiturseite und zeichnen sich durch Fassbarkeit und großen Abwechslungsreichtum aus.
Mit Riesenschritten hat er sich dann in den ersten beiden Sonaten (von 1946 bzw. 1948) weiterentwickelt, welche die Reihentechnik immer konsequenter anwenden, kulminierend in dem für eine streng durchgehaltene Serialität geradezu modellhaften ersten Band der „Structures“ von 1952. Dort ist dann gar kein Platz mehr für spieltechnisch extreme Anforderungen, welche die immerhin halbstündige zweite Sonate für Pianisten so anspruchsvoll und Hörer so anstrengend machen. Weltweit gibt es nur eine Handvoll Pianisten, die ihr gewachsen sind; Vassilakis ist nach meiner Zählung immerhin der fünfte, der (zumindest auf Tonträgern) die Herausforderung annimmt.
In jedem Jahrzehnt scheint sich gerade einmal ein Pianist bereit zu erklären, die Sonaten einzuspielen, diese hier ist aber die allererste Gesamteinspielung aller solistischen Klavierwerke. Nach einer Pause von dreiunddreißig Jahren nämlich (gerechnet vom Erscheinen des zweiten Bandes der „Structures“ an) hat sich Boulez 1994 (erweitert 2001 – eine Ersteinspielung) wieder seinem eigenen Instrument zugewandt – „Incises“ kann mit einer ganz neuen Lockerheit, einer fast schon spielerischen Freude an den schier unbegrenzten Möglichkeiten der 88 Tasten aufwarten, die an den afroamerikanischen Improvisator Cecil Taylor erinnert. Ebenfalls als Auftragswerk folgte 2005 noch das als Albumblatt vorgesehene, aber weit darüber hinausgediehene „Une page d’éphéméride“.
Dimitri Vassilakis, der langjährige Pianist des Ensemble Intercontemporain, wächst an dieser herkuleischen Tat über sich hinaus; er selbst würde bescheiden sagen, er habe seine Rolle (nämlich wie ein Schauspieler den jeweiligen Tonfall des Komponisten zu treffen) glaubhaft verkörpert. Den Namen dieses auch schon 46-jährigen Musikers werden wir uns künftig merken müssen – und den des Tonmeisters (falls nicht schon längst geschehen) dazu: Ein derart kraftvoller, phänomenal plastischer und zugleich durchhörbarer Klavierklang, wie ihn Ingo Schmidt-Lucas auf diesen SACDs eingefangen hat, ist mir bislang kaum je untergekommen – und dabei habe ich bloß die zweikanalige Version hören können.