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Abschied vom allwissenden Herausgeber

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Ein Gespräch über die neue Reger-Werkausgabe und ihre digitale Aufbereitung der Quellen
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„Wissenschaftlich-kritische Hybrid-Edition von Werken und Quellen“: Unter diesem Ehrfurcht gebietenden Titel erscheint seit April die neue Reger-Werk­ausgabe. Kernstück des von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur geförderten Projekts ist neben den gedruckten Notenbänden eine umfangreiche DVD, die den kompletten Quellenbestand der einzelnen Werke erschließt und so die Entscheidungen der Herausgeber transparent macht. Juan Martin Koch sprach mit Dr. Stefanie Steiner, die als Wissenschaftliche Mitarbeiterin des federführenden Max-Reger-Instituts Karlsruhe den ers­ten Band mitherausgegeben hat.

neue musikzeitung: Wie fiel die Entscheidung, welche Werke in die neue Reger-Werkausgabe aufgenommen werden sollten?
Stefanie Steiner: Die neue Ausgabe konzentriert sich zunächst auf die Orgelwerke, als erste Abteilung, in der zweiten folgen dann Lieder und Chöre und schließlich in der dritten Abteilung Bearbeitungen. Die Orgelwerke haben wir ausgewählt, weil die alte Reger-Gesamtausgabe in diesem Bereich als überarbeitungsbedürftig gilt, nicht nur von Seiten kritischer Musikwissenschaft, sondern auch von der Praxis aus. Die Gesamtausgabe hat ein großes Manko: Es wurden häufig Änderungen vorgenommen, die nicht dokumentiert sind. Bei den Liedern und Chören wiederum geht es vor allem um die Textvorlagen, die zum Teil von Dichtern stammen, die heute vollkommen unbekannt sind. Und von Regers Bearbeitungen der Werke anderer Komponisten gibt es zum Teil gar keine Ausgaben mehr, viele Musiker und Ensembles wollen diese Stücke aber einspielen.

nmz: Eine Gesamtausgabe soll daraus aber nicht werden?
Steiner: Mittelfristig ist das noch nicht geplant, wir mussten uns aus Gründen der Förderung auf Module konzentrieren, so entstand die Auswahl.

nmz: Lag die Idee digitaler Werkausgaben in der Luft oder boten sich speziell Regers Werke für diese Aufarbeitung an?
Steiner: Einerseits liegt die Tendenz zur Digitalisierung natürlich in der Luft, wie man an den Aktivitäten vieler Bibliotheken sieht. Regers Autographe legen die bildhafte Präsentation aber auch sehr nahe. Sie sind von außerordentlicher kalligrafischer Qualität, da Reger seine Manuskripte zweifarbig anlegte, den Notentext mit schwarzer, die Vortragsanweisungen mit roter Tinte. Im Bereich der Orgelwerke gibt es zudem oft mehrere Handschriften eines Werkes. Diese verbal im Rahmen eines kritischen Berichts zu vergleichen wäre sehr schwierig und mühsam zu lesen.

nmz: Es entstehen die Ungetüme an kritischen Berichten …
Steiner: … in die niemand mehr hineinschaut. Der Begriff des Hybriden trifft es sehr gut, die Ausgabe vereint die Vorzüge zweier verschiedener Verfahren: eines gedruckten Bandes, der für die musikalische Praxis nach wie vor unverzichtbar ist, und der DVD, die Datenmengen zur Verfügung stellen kann, die gedruckt nicht mitgeliefert werden könnten.

nmz: Welche Informationen findet der Nutzer im Notenband, welche digital?
Steiner: Wir unterscheiden da drei Prioritätsebenen: Massive Eingriffe, bei denen Reger etwa Teile umgestellt hat oder Töne fraglich sind; das ist die oberste Ebene, die im gedruckten Band sogar mit einer Fußnote nachgewiesen wird. Die zweite Ebene betrifft zum Beispiel Vortragsanweisungen, die wir aus einer anderen Quelle rekonstruiert haben. Dies ist im Band enthalten, aber nicht direkt als Fußnote im Notentext. Auf die DVD ausgelagert sind Dinge, die in einer kritischen Ausgabe dokumentiert werden müssen, aber weniger praxisrelevant sind, beispielsweise ob Sicherheitsakzidentien in allen Quellen gleich gesetzt sind.

nmz: Der eigentliche Clou der DVD ist aber der direkte Zugriff auf die Quellen.
Steiner: So ist es. Die zugrunde liegende Software Edirom, entwickelt in einem Forschungsprojekt der Detmolder Musikhochschule und der Universität Paderborn, ermöglicht es, sich den gedruckten Notentext zusammen mit den verschiedenen Originalquellen anzusehen. Sie blättern sich Seite für Seite oder Takt für Takt durch alle Quellen gleichzeitig. Je nach Prioritätsebene verweisen Markierungen auf die Anmerkungen, die man dann per Mausklick in Wort und Bild zu sehen bekommt. Hinzu kommt der umfangreiche Anhang mit weiteren Informationen zum Umfeld Regers und der Kompositionen. Allein im ersten Band sind das an die 300 zum Teil bisher unveröffentlichte Dokumente.

nmz: Gibt es im ersten Band mit Choralphantasien ein schönes Beispiel für ein Textproblem, das in der digitalen Ansicht besonders anschaulich ist?
Steiner: Wenn Reger etwas änderte und mit einem Messer die oberste Schicht ausrasierte, ist es umständlich zu beschreiben, welche Töne gelöscht wurden, sofern das noch zu sehen ist. Mit einem Bild unterlegt genügt eigentlich das Wort „Rasur“ und man sieht, was da passiert ist. Auch Briefe gibt es, in denen Reger auf Druckfehler hinweist und die korrekte Variante notiert. Solche Dokumente sind natürlich ebenfalls digital verfügbar und können an der betreffenden Stelle eingeblendet werden.

nmz: Wie fallen die Reaktionen auf den ersten Band bisher aus?
Steiner: Sehr positiv, die Möglichkeit, dem Komponisten und dem Herausgeber gleichermaßen bei der Arbeit über die Schulter zu schauen, wird sehr begrüßt.

nmz: Und macht das Edieren jetzt auch mehr Spaß?
Steiner: Es stellt jedenfalls ganz neue Herausforderungen: Das liegt zum einen am Umgang mit der Software, zum anderen an der Teamarbeit. Man muss seine Sicht der Dinge vor den Kollegen verteidigen. Auch der Dialog mit der musikalischen Praxis hat sich ver­stärkt. Der Prozess ist insgesamt kommunikativer, offener und transparenter geworden: weg vom allwissenden Editor, dessen Entscheidungen im Notendruck fixiert sind, hin zu einem Kollektiv, das eine Ausgabe erstellt, die dem Musiker die Möglichkeit gibt, das Ergebnis anhand der Quellen zu hinterfragen und möglicherweise zu ganz anderen Ergebnissen zu kommen.

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