Leoš Janáček: Auf verwachsenem Pfade (Po zarostlém chodíčku), für Akkordeon und Klavier, bearbeitet von Stefan Heucke. +++ Stefan Heucke: Heimat, für Akkordeon und Klavier.
Leoš Janáček: Auf verwachsenem Pfade (Po zarostlém chodíčku), für Akkordeon und Klavier, bearbeitet von Stefan Heucke. Augemus Musikverlag, Bochum
Stefan Heucke: Heimat, für Akkordeon und Klavier. Augemus Musikverlag, Bochum
Zum Glück hat Leoš Janáček (1854–1928) für das zu seiner Zeit angesehene „Kunstharmonium“ geschrieben, so dass Akkordeonisten mit ihrem auf demselben Tonentstehungsprinzip fußenden Instrument auch auf Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts mit mindestens gleicher Authentizität zurückgreifen können, wie Pianisten auf Cembalokompositionen der Barockzeit. Mit „Auf verwachsenem Pfade I“ stellte Janáček zehn Sätze von halbstündiger Dauer für Klavier vor, von denen fünf ursprünglich für Harmonium geschrieben waren. Der Zyklus, der auch als „intime Briefe bezeichnet werden kann“ (Janáček), ist zwischen 1901 und 1908 aus verschiedenen Anlässen gewachsen. „Die intimen Charakterstücke tragen deutlich autobiographische Züge, und können so als ein Strom von Erinnerungen verstanden werden, mit denen Janáček gleichsam zurück in die Jugendzeit seiner mährischen Heimat Hukvaldy wandert. Hineingewoben in diese nostalgisch verklärten Rückblenden sind Erinnerungen an Janáčeks zärtlich geliebte Tochter Olga, die 1903 jung verstarb.“ (Peter Noelke). Dem mit dem „Hans-Werner-Henze-Preis“ ausgezeichneten Komponisten Stefan Heucke lag das Thema „Heimat“ „schon sehr lange“ (Heucke) am Herzen, intensiviert durch die Bearbeitung dieses Janáček-Werkes 2007 für Akkordeon und Klavier, was schließlich in der Schaffung von „Heimat“, op. 49, als etwa 25-minütiges originales Werk für diese beiden gegensätzlichen Instrumente mündete.
Heucke rät innerhalb des Janáček-Vorwortes, die beiden Werke als „gleichsam ‚komponiertes‘ Konzertprogramm“ zu sehen, „das dem Begriff ‚Heimat‘ mit zahlreichen Farben und Nuancen auf den unterschiedlichsten Wegen und Pfaden nachspürt.“ (Seine Einschätzung eines „ruhigen“ Charakters der Janáček-Stücke wird hiermit angezweifelt.) Innerhalb der Einheit des Heimatgedankens der beiden Werke kann die in ihnen eingebettete Polarität nicht außer Acht gelassen werden, deren Spannung gerade zur „zweieiigen Zwillingspräsentation“ in dieser instrumentalen Besetzung drängt: Nach Susanne Duch ist „Auf verwachsenem Pfade“ als Metapher einem mährischen Hochzeitslied entlehnt, in dem es heißt „Verwachsen von zartkleinem Klee ist mir zum Mütterchen der Pfad.“ Diese Rückbesinnung zeugt vom ausschließlich eigenen Erleben und Fühlen des Komponisten in diesem intimen Werk. Heuckes (geb. 1959) Heimatbegriff in „Heimat“ weitet sich jedoch auch in die objektive Historie, in dem er die Tragik des vergangenen Jahrhunderts innerhalb seiner acht Sätze, wie in „Wir sind Auschwitz“ oder – im Blick auf den Missbrauch des Heimatbegriffes in der NS-Zeit – „Verloren“ aufgreift und be- beziehungsweise vertont. In „B B B“ spaltet er dem Janáček’schen emotional-subjektiven Heimatbegriff zusätzlich eine „geistige Heimat“ ab in Gestalt der „Vaterfiguren der deutschen Musik, Bach, Beethoven und Brahms“. Janáček lebt – wie in vielen seiner Werke – aus der Musik und dem Sprachduktus seines Volkes in Melodien bis zur Motivik; bei „Heimat“ dagegen steht ein Volkslied – „Jetzt gang i ans Brünnele“ – aus der Heimat des Komponisten im Fokus, mannigfach abgewandelt, versteckt, und in der Aufwärtsquarte im Anfang jeden Satzes simultan oder sukzessive verbaut. Der Verbreiterung des Janáček’schen Heimatbegriffs in „Heimat“ ist auch eine gewisse Logik der Weiterentwicklung eigen. Zwei unmittelbar hörbare Verbindungsklammern der beiden Werke ergeben sich aus der Fortsetzung des letzten Janáček-Akkordes im Anfangsklang von „Heimat“ und im Hervortun der Quarte in beiden ersten Sätzen.
Die Art des Verbindens und Korrespondierens des Percussionsinstrumentes Klavier mit dem Instrument ungedämpfter Schwingung Akkordeon bildet den übergreifenden akustischen Federstrich des Bearbeiters beziehungsweise „Heimat“-Komponisten: Phrasenweise zwischen den Instrumenten springende Passagen oder satzergänzende Stimmenverteilung sind Beispiel in „Kommt mit!“ Janáčeks; in seiner „Die Friederiker Mutter Gottes“ behält das Harmonium im Akkordeon den Klangbackground zur „Feierlichkeit einer ländlichen Marienprozession“ (Honolka) ähnlich einem Orgelpunkt oder einem archaischen Bordun; in selbigem Satz kommt eine Klangtechnik frappierend zu Ohr, in der der in beiden Instrumenten identische simultan gespielte langwertige Part bei jedem Klang nach der percussierenden Klavierdominanz allmählich den weiter verbleibenden Akkordeonsound vordergründig werden lässt. In der persönlich-emotionalen Retrospektive der ersten drei „Heimat“-Sätze „Spurensuche“, „Kindheit“ und „Kennst Du das Land“ als quasi Fortschreibung der „intimen Briefe“ Janáčeks verlässt Heucke die eininstrumentale satztechnische Gebundenheit allmählich in die klangliche Freiheit der Zweierbesetzung. Die so sensibel bewirkte Vermeidung eines klanglichen Bruches zum programmatischen „Auf verwachsenem Pfade“-Vorlauf unterstreicht die Eignung der beiden Werke zur geschlossenen Darstellung zusätzlich. Kulminationsebene von „Heimat“ ist „BBB“, wo in einer Art Quadrupelverfugung aus Themen der tonhöhenverwertbaren Buchstaben dieser elitären Dreierbande ein klanglich durchaus gewagtes, rhythmisch und dynamisch wirkungsvolles Werksegment besonders gelang. Der achte Satz zeigt kontrastreich, schlicht und einstrophig das über dem Ganzen schwebende Volkslied als Epilog.
Die beiden Werke sind insgesamt in den oberen Schwierigkeitsgraden beheimatet; einzelne Sätze können auch in den Stufen drei bis vier angesiedelt werden – also eine Werk-Zweiheit zum musikalisch-pädagogischen Hineinwachsen. Eine CD-Einspielung der beiden Werke mit den Uraufführungs-Interpreten Marko Kassl (Akkordeon) und Tobias Bredohl (Klavier) ist über Augemus erhältlich. Hervorzuheben ist die gelungene musizierpraktische Hilfe des Verlages zu „Heimat“ in Gestalt von zwei Zusatzheften für Akkordeon, um das Blättern ohne Zusatzpersonal bewerkstelligen zu können. Ausführliche Vorworte lassen in die Kompositionen probetauchen.
Einen Großen wie Janáček zu bearbeiten, mag als Sakrileg empfunden werden. Dessen eigene Bearbeitung jedoch in gewisser Weise dem instrumentalen Urzustand näherzubringen beziehungsweise dem Janáček’schen Harmonium in einer gelungenen Bearbeitung nachzuspüren sowie darüber hinaus dem kammermusikhungrigen Akkordeon noch einen zweiten vitaminreichen Bissen zuzueignen, wiegt diesen Einwand wohl mehr als auf. Als „Zweieinigkeit“ verdienen die beiden Werke einen bevorzugten Platz in der Duo-Kammermusikliteratur!