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Alter Wein in neuen Schläuchen

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Dvoráks Kammermusik in neuen Ausgaben bei Bärenreiter, Teil 1
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Antonín Dvorák gehört in Klassikprogrammen zu dem guten Dutzend meistaufgeführter Komponisten. In allen Genres hat er bedeutsame Werke hinterlassen, vokal wie instrumental, von der großen symphonischen Form bis zur intimen Kammermusik. Umso erstaunlicher ist es, dass es für diesen tschechischen Musiker des späten 19. Jahrhunderts zwar ein großes thematisches Werkverzeichnis gibt (nach Jarmil Burghausers Verzeichnis werden die über 200 Kompositionen Dvoráks mit vorangestelltem Buchstaben „B“ durchnummeriert), es trotz vielfältiger Druckausgaben aber nach wie vor an verlässlichem Aufführungsmaterial mangelt.

Immerhin: Zu Dvoráks 50. Todestag 1954 hat die Dvorák-Gesellschaft in Prag die Initiative für den Start einer Gesamtausgabe ergriffen. Diese wuchs unter wechselnder, dann wieder stagnierender Editionsführung relativ rasch von 1957 bis in die 80er-Jahre auf über hundert Bände an, blieb jedoch unvollendet. Eine Neue Dvorák-Edition (NDE), auf 65 Bände Umfang kalkuliert, sollte alle überlieferten weit über 200 Werke Dvoráks nach neuen Erkenntnissen als wissenschaftliche, historisch-kritische Ausgabe umfassen, natürlich nach neuen Editionsrichtlinien und internationalen Normen. Voraussetzung ist die Konsultation und Auswertung aller verfügbaren Primär- und Sekundärquellen. Zum Beispiel auf die noch zu seinen Lebzeiten auf verschiedene Verleger verteilten Erstdrucke, die der Komponist vielleicht noch penibel sichten und korrigieren konnte. Bis jetzt, 15 Jahre danach, blieb es bei der Absichtserklärung.

Bärenreiters Initiative

Auch als vor etwa drei Jahren der Musikverlag Bärenreiter begann, sich intensiver dem Opus von Dvorák zu widmen, war von einer „Neuen Dvorák Edition“ nicht mehr die Rede. Ohne sich darauf zu beziehen, legte Bärenreiter in auffallend orange-rotem Umschlag eine Sammlung von Notenausgaben zu Dvoráks Kammermusik in Form von Stimmen und Taschenpartituren vor. Diese seit 2012 erschienenen Neuausgaben werden hier kurz vorgestellt. In diesem Zusammenhang erstaunt, dass bei Bärenreiter-Ausgaben zwar die vom Komponisten selbst festgelegten Opus-Zahlen erscheinen, jedoch auf die B-Nummerierung nach Burghausers Werkverzeichnis verzichtet wird (Ausnahme; B 17 für 2. Streichquartett B-Dur ohne Opuszahl, s.d.).

Bärenreiter bedient sich hinsichtlich der Dvorák-Editionspraxis offensichtlich vorerst noch eines Kompromisses mit dem vorrangigen Ziel, für die zunehmend aktuelle kammermusikalische Aufführungspraxis brauchbares Notenmaterial bereitzustellen, auch wenn noch Erkenntnisse der Dvorák-Forschung einzubringen wären – und deren sind es reichlich viele, gemessen an den vorliegenden Brief-Editionen, weltweiten Dvorák-Studien und sonstigen Zeitdokumenten. Da die NDE auf sich warten lässt, mag es als Notbehelf angesehen werden, vorerst an die alte Dvorák-Gesamtausgabe der Fünfziger Jahre anzuknüpfen und den Notentext jener grün-gelben Notenbände des tschechischen Staatsverlages zu übernehmen, im besten Falle nach Vergleich und Korrektur mit Erstdrucken (die auch nicht als letzte Instanz anzusehen sind) und autographen Druckvorlagen.

Was zeichnet Bärenreiters Notenausgaben von Dvoráks Kammermusik aus? Sie sind neben dem orange-roten Umschlag in ein neues und frisches Layout gepackt, das einige bemerkenswerte Tatsachen aufweist, die heutigen Erfordernissen der Aufführungspraxis entgegenkommen. Die Noten haben gegenüber der Edition der Fünfziger Jahre ein um einen Zentimeter verbreitertes Außenformat (31 x 24,5 cm). Das erlaubt einen leicht vergrößerten Satzspiegel, zugleich eine weniger gedrängte Noten- und Zeilenanordnung. Ihr lockeres, übersichtliches und damit freundliches Schriftbild kommt der Lesbarkeit und der Spielpraxis enorm entgegen, vor allem wenn auch günstige Blatt-Wendestellen dabei sind.

Die seit 2012 gestalteten neuen Bärenreiter-Ausgaben für Kammermusik sind von ausführlichen Einführungen begleitet. Diese Texte finden sich eingangs entweder in der dazugehörigen (blauen) Taschenpartitur oder in der Klavierpartitur und geben zur Quellenlage und zur Werkentstehung samt deren ersten Aufführungen hinreichend Aufschluss, entsprechen aber vielleicht noch nicht dem aktuellsten Erkenntnisstand. Dass sich Bärenreiters Dvorák-Kammermusik nicht wie die vielen anderen Bärenreiter-Editionen mit dem Qualitätssiegel „Urtext“ auszeichnen lässt, wird allein schon im Hinblick auf die vielfach unklare Quellenlage deutlich.

Kammermusik für Streicher

Das 1. Streichquartett A-Dur op. 2 (B 8) des 21-Jährigen, nur intern aufgeführt, war wohl mehr eine Pflichtübung während seines Studiums am Prager Konservatorium. Dvorák hat es als nicht lohnenswert nicht zum Druck gegeben, doch als Dokument „Dvoráks ungewöhnlicher Phantasie in der Anfangszeit seiner schöpferischen Tätigkeit“ (Otakar Šourek) fand es Aufnahme in der in den Fünfziger Jahren begonnenen kritischen Gesamtausgabe. 1887 hat er sein Frühwerk noch einer Revision unterworfen. Diese Korrekturen und insgesamt 14 Noten-Supplementi, finden sich im Anhang dieser Bärenreiter-Ausgabe (BA 9539, TB 535) mit Editionsbericht von Hartmut Schick und Werkgeschichte von J. Burghauser.

Das 2. Streichquartett B-Dur (B 17) aus dem Jahr 1869 war wohl nach Dvorák keiner Opus-Zahl würdig, erhielt dann chronologisch gesehen als Quartett Nr. 2 eine Aufnahme in Burghausers Verzeichnis, obwohl es zu den von Dvorák als „gescheiterte Experimente“ angesehenen und deshalb ausrangierten ersten Quartetten zählt, die im „Banne von Wagner, Liszt und Berlioz“ geschrieben wurden, ein „in seinen äußeren Dimensionen ausuferndes Werk“ von 50 Minuten Spieldauer. Zur Aufführung ist es wohl nie gekommen, aber durch einen Zufall hat sich ein Stimmen-Satz erhalten, der seinerzeit die Herausgabe durch Antonín Pokorný und Karl Šolc ermöglichte, deren Vorwort von Hartmut Schick (BA 9540, TB 540) ergänzt wurde.

Das 5. Streichquartett f-Moll, 1873 entstanden, „spiegelt offensichtlich den seelischen Zustand des Komponisten in jener Zeit wider: Hoffnung und Zweifel“ (Burghauser); Dvorák resümiert nach misslungenen Aufführungen, sucht neue Orientierung, veränderte Konzepte. Die Vorlagen dieses Quartetts gingen verloren. Erhalten ist nur eine von dem Komponisten Günter Raphael bei Breitkopf & Härtel 1929 herausgegebene Fassung. Auf diese stützt sich die aktuelle Bärenreiter-Ausgabe (BA 9545, TB 535, Spielzeit 35 Minuten), deren Umstände von Jarmil Burghauser und Hartmut Schick im Vorwort genauer dargelegt werden.

Zum Streichquintett G-dur mit Kontrabass ist Dvorák möglicherweise durch Schuberts Forellenquintett angeregt worden, ein Werk, das 1874/75 entstanden ist, um es anonym unter dem Losungswort „Meinem Volk“ bei einem Wettbewerb einzureichen, den der Künstlerverein Prag für die beste Kammermusik ausgeschrieben hatte. Das Quintett „wurde mit großem Beifall aufgenommen“ und erhielt den 1. Preis. Dieser und erfolgreiche Aufführungen gaben Dvorák einen starken Karriereschub. Allerdings reichte er das preisgekrönte Werk, zuvor überarbeitet, erst 1888 beim Verleger Simrock für den Druck ein, der die ursprüngliche Opuszahl 18 aus werbetaktischen Gründen in Opus 77 änderte. Otakar Šourek beschreibt 1954 dieses Quintett mit seinen vier Sätzen und 33 Minuten Spielzeit als „gedanklich frisch, reizvoll und gesund empfunden […] sich zudem durch formale Geschliffenheit auszeichnend“. David R. Beveridge verteidigt in seinem Vorwort zur Bärenreiter-Ausgabe (BA 9577, TP 577; B 49) den Simrock-Druck von 1889 und würdigt die Herausgabe durch František Bartoš und Antonín Pokorný. Dank der späteren Revision durch Dvorák könnte man immerhin dieser Fassung das Attribut „Urtext“ zugestehen.

Das Streichquintett Es-Dur op. 97 (B 180) mit einer zweiten Viola entstand während seines dreijährigen Amerika-Aufenthaltes, in einer Phase besonderer persönlicher Zufriedenheit, während des Sommerurlaubs 1893 in Spillville (Iowa) und unmittelbar nach dem noch populäreren sogenannten Amerikanischen Streichquartett F-Dur op. 96 und nach der Sinfonie Nr. 9 e-Moll, „Aus der Neuen Welt“. Die Aufführungen in der New Yorker Carnegie Hall von Opus 96 und Opus 97 lösten „gleichermaßen Begeisterung aus“, die Musik sei „voller Einfälle, reich an launiger Anmut, kristallklar und belebend durch ihre unverschämte Fröhlichkeit“, berichtete damals „The New York Daily Tribune“. Die von František Bartoš herausgegebene Bärenreiter-Ausgabe (BA 9542, TB 532) stützt sich auf die Simrock-Druckfassung von 1894. David R. Beveridge erläutert im besonders ausführlichen Vorwort und Editionsbericht die durchaus noch vorhandenen Unklarheiten und geht kritisch der Frage nach, worin in den Werken dieser Zeit das speziell amerikanische, afroamerikanische oder gar indianische gesehen werden könnte.

Im Streichsextett A-Dur op. 48 (B 80) für zwei Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli betont Dvorák seine tschechische Herkunft, seine slawische Verbundenheit, bezieht bewusst unter anderem ukrainische und böhmische Volkstänze ein und erntet damit internationalen Erfolg. Auch Brahms fand dieses 1878 geschriebene Stück mit seiner Spielzeit von über 30 Minuten in seinem voluminöseren Streicherklang „unendlich schön“. Nach der Uraufführung 1879 durch das erweiterte Joachim-Quartett in Berlin gab es Simrock in Druck. Danach erfolgte die Herausgabe durch Jarmil Burghauser und Antonín Cubr (BA 9566).

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