Mit dem Erstdruck der Partitur der fünfaktigen Kepler-Oper „Die Harmonie der Welt“ auf des Komponisten eigenes Libretto hat sich die Paul-Hindemith-Gesamtausgabe ihre eigentliche Krone aufgesetzt, und damit auch deren so ehrgeiziger wie akribischer Spiritus Rector Giselher Schubert. Die „Harmonie der Welt“ ist nicht nur die große, fast abschließende Kulmination im Schaffen Hindemiths geworden, sie wurde auch zum großen Schmerzenskind sowohl ihres Hervorbringers als auch seines Verlegers. Es ist hier wie mit so manchem ganz groß geplanten und angelegten Projekt eines Künstlers, der der ganzen Welt in einem einmaligen Akt das Credo seines Schaffens darlegen möchte: Es ist nicht nur die Entstehung mit ungeheuren Mühen und Hemmnissen verbunden, sondern es entsteht auch eine extreme Erwartungshaltung, die Freunde und Feinde auf den Plan ruft und wohl auch zwangsläufig zu ideologisch geprägter Rezeption und meist nachhaltiger Enttäuschung führt.
Auf Augenhöhe mit Kurosawa und Polanski
Nach dem herrlichen Gift des „Cardillac“ und seiner kurzweilig provozierenden bilderstürmerischen Vorgängerwerke der wilden 1920er-Jahre hatte Hindemith ja eigentlich bereits mit seiner das altmeisterliche Zunftwesen des künstlerischen Handwerks beschwörenden Grünewald-Oper „Mathis der Maler“ sein großes Bekenntnis- und Reifewerk geschaffen, das sich zudem als ausgesprochen erfolgreich erwies. Doch dies genügte ihm keineswegs. Seit den 1930er-Jahren trug er sich mit den Plänen seiner großen Kepler-Oper, in welcher eben all das zusammengefügt werden sollte, was ihn im Innersten bewegte. Freilich sollte es mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis die Angelegenheit feste Umrisse annahm und dann auch 1956 bis 1957 recht zügig entstehen konnte. Der eigentliche Durchbruch zur Manifestation des großen Plans geschah Ende 1951 mit der Komposition der von Paul Sacher in Auftrag gegebenen und von Wilhelm Furtwängler legendär dargebotenen dreisätzigen Symphonie „Die Harmonie der Welt“, die von vielen als großer Höhepunkt in Hindemiths Schaffen empfunden wurde und sich doch bis heute, trotz aller unbestreitbaren Qualität, im Gegensatz zur weltweit so bekannten Symphonie „Mathis der Maler“ im Konzertsaal nicht permanent etabliert hat. Hindemith benutzte nun die drei fertigen Sätze als Gerüst für seine Oper, die bis zur Fertigstellung noch allerhand Veränderungen des Plots und seiner Ausgestaltung durchlief. Das Finale der Symphonie diente als Blaupause der finalen Apotheose der Oper, wo sie nach dem Bekenntnis des sterbenden Kepler, die Harmonie sei nicht in dieser Welt der Schrecken und des Bösen, sondern erst im Tode zu finden, jene über sich selbst hinauswachsende Utopie musikalisch transportiert, mit welcher wohl auch der Komponist der ganzen Welt signalisieren wollte: Ihr mögt den Verfall aller musikalischen Werte mit noch so großer Macht und Gewalt propagieren, es gelten doch ungebrochen die ewigen Gesetze, auch wenn ich einer der letzten dazu Berufenen sein mag, der auf ihrer Gültigkeit besteht.
Solange er gegen die Tradition aufbegehrte, war Hindemith ein weithin anregender, als fortschrittlich geachteter Musiktheatermann. Doch als er die Gewänder der Provokation abstreifte, das Kecke, Humoristische, Entweihende nur noch Aspekte einer um Universalität und Würde bemühten Persönlichkeit bildeten, setzte schnell der Vorwurf des Restaurativen ein, der ihn, verbunden mit der Ablehnung seines Bekenntnisses zur harmonikal begründeten Tonalität in der „Unterweisung im Tonsatz“, mehr und mehr in die Ecke des Reaktionären zu rücken suchte. Und in der Tat kann man berechtigt fragen, wieso ausgerechnet ein zunächst so übermütiger, scheinbar respektloser, auch musikalisch ruppig und robust sich gebärdender junger Mann sich so unumkehrbar darauf besann, nunmehr bis an sein Lebensende zeitlose, ewige Werte zu vertreten. Dass er daran glaubte: ohne Frage. Doch war er, der Meister der unverfrorenen Scherze und Dreistigkeiten, auch der geeignete Mann dafür?
Vielfalt des Sujets
Wir lassen die Frage offen, doch außer Zweifel steht bei aller Vielfalt des Sujets, seiner Szenerien und Charakterzeichnungen, dass „Die Harmonie der Welt“ als Weltanschauungs-Musiktheater für die Launen und Erwartungen der Opernbühne bis heute nur bedingt tauglich ist. Zu sehr ist es ein zutiefst idealistisches Bekenntnis künstlerischen Ethos’, als dass es die ironischen Brechungen, sinnentfremdenden Überladungen, plakativen Politisierungen und die grundsätzliche Desavouierung alles Weihevollen wirklich vertrüge, auf welche das heutige Regietheater alternativlos setzt. Es ist – in der Tradition von Wagners „Parsifal“ und Pfitzners „Palestrina“ – eigentlich eine Art Bühnenweihespiel, wenngleich mit starken theatralisch wilden, instrumental aufbegehrenden Akzenten, und vielleicht sogar mehr eine Art Oratorium, dem eine sich aufs psychologisch Wesentliche konzentrierende und reduzierende, die Personenführung in empathisch verantwortungsvoller Disziplin in den Vordergrund stellende Inszenierung zugute käme. Eine solche, wirklich ernsthafte, sozusagen sich mit Kurosawa und Polanski auf Augenhöhe bewegende „Harmonie der Welt“ dürfte ideal erscheinen.
Rein musikalisch ist „Die Harmonie der Welt“ über jeden Zweifel erhaben. Das gilt für alle Szenen, von der ermattenden Introversion des einsamen Wissenschaftlers angesichts der Unvereinbarkeit von erkannter Weltgesetzlichkeit und alltäglicher Niedertracht in ihrer fragilen, fast improvisatorisch losgelösten Feinzeichnung bis zur Illustration der kriegslüsternen Allmachtsfantasien Wallensteins und den antiphonischen Hinrichtungs-Forderungen des Mobs beim Hexenprozess. Nur ist sehr zweifelhaft, ob die Geschwindigkeit von Plot-Wendungen, die als Sprechtheater funktionieren könnte, im musikalischen Kontext auch funktioniert. Hier – etwa wenn Kepler den Hinrichtungsspruch in letzter Minute im Schutz eines verliehenen Nimbus abwendet – ist dann doch in zehn Minuten verpackt, was bezüglich des emotionalen Impakts abendfüllend wäre. Daher wohl doch, ungeachtet des abendfüllenden Umfangs: zu viel Handlung auf zu wenig Raum. Und zugleich viel zu wertvoll, um als musikgeschichtliche Marginalie im Verlagsarchiv zu verrotten.
Die fünf Akte sind in drei Bänden als Gesamtausgabe erschienen. Monumental wie das Kunstwerk selbst ist die philologische Aufarbeitung. Das erschöpfende Vorwort Giselher Schuberts behandelt auch alle Stadien der so verwickelten Entstehung des Librettos, der Vorbereitung der Uraufführung in München (Hindemith hatte Karajan und damit Salzburg abgelehnt), der Folgeaufführungen und alle Fragen der möglichen autorisierten Kürzungen. Da Hindemiths allzu früher Tod diese letztliche Anpassung an die Realität des Opernalltags verhinderte, die Frage der Kürzungen also unbeantwortet ließ, ist vorliegende Ausgabe tatsächlich der eigentliche Erstdruck (der kritische Bericht erstreckt sich über fast 50 Seiten). Stofflich ist das Werk mehr als aktuell, gerade auch hinsichtlich des Missbrauchs der Wissenschaft, die ja heute mehr denn je eine von den Mächtigen gekaufte ist. Es kann also losgehen mit der ernsthaften Durchsetzung dieses unpopulären Meisterwerks, das neben einem vorzüglichen Dirigat vor allem auf so musikalisch exzellente, auch brillant akkurate Sänger angewiesen ist wie etwa die herausragende Michelle Breedt in der Rolle von Keplers dem Irrationalen zugewandter, der Hexerei angeklagter Mutter Katharina in der äußerst gediegenen Ersteinspielung unter Marek Janowski für Wergo.
- Paul Hindemith: Die Harmonie der Welt. Oper in fünf Aufzügen. Hrsg. von Giselher Schubert. Schott Music, Teil A (Erster Aufzug), PHA 110-10, e 174,50; Teil B (Zweiter und Dritter Aufzug), PHA 110-20, € 295,50; Teil C (Vierter und Fünfter Aufzug), PHA 110-30, € 222,00.
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