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Cord Garben: Zur Interpretation der Liedzyklen von Franz Schubert. Anmerkungen für Pianisten, Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, Eisenach, 1999 (Schriftenreihe zur Musik, Band 32)
Auch der musikalische „Feierabend“ hält unter Umständen hinreichend Konfliktpotential bereit – nämlich dann, wenn der Sänger in Schuberts „Schöner Müllerin“ vom Pianisten verlangt, „durch seine Gestaltung den schwer arbeitenden Knappen oder die großen Steinbrocken und so weiter hör- oder sichtbar zu machen. In diesem Fall gilt es die Nerven zu behalten! Man lasse sich nicht irritieren und spiele allein aus der musikalischen Logik der Anfangsakkorde heraus, also ganz normal...“
Sein neu erschienenes Studienwerk „Zur Interpretation der Liedzyklen von Franz Schubert“ hat der renommierte Liedbegleiter Cord Garben, der in letzten Jahren auch zunehmend als Dirigent in Erscheinung tritt, dem großen Kurt Moll gewidmet – frei nach Zemlinsky: „dem edlen Sänger und Kämpfer vom Kampfgenossen“. Derart gefärbte leidvolle co-sängerische Erfahrungen, die Garben in bester Begleitertradition („Bin ich zu laut?“) am Rande mit einbringt, künden hier zuweilen subtil vom harten Los des schwer arbeitenden Mannes im Hintergrund – so zum Beispiel die Erkenntnis: „Sänger lieben es, bestimmte Textaussagen ohne Rücksicht auf die Zusammenhänge der musikalischen Struktur durchzusetzen: Bellt der Hund, dann kann das nur laut geschehen!“ Trotzdem will der Verfasser weder Sängerkrieg noch Begleiterrevolte anzetteln: Schuberts „Schöne Müllerin“, „Winterreise“ und „Schwanengesang“ werden primär aus separat pianistischem Blickwinkel von der interpretatorisch-technischen Seite aus betrachtet.
Garben, dessen Erfahrungen als Pädagoge sowie als Produzent und jahrelanger Betreuer Fischer-Dieskaus bei der Deutschen Grammophon hier gleichfalls mit eingeflossen sind, gibt Hinweise zu Taktverständnis und grundlegenden Tempofragen, bespricht detailliert Alternativen in puncto Akzentuierung (Schwerpunkte, Schaltstellen, sinnfälliges Hervorheben von Gegenstimmen) und unterbreitet agogische Gesamtentwürfe – auch liedübergreifender Art.
Desweiteren finden sich manchmal etwas exzentrisch anmutende, aber durchaus brauchbare Fingersätze; eine spieltechnische Ergänzung bieten die im Komplex „Winterreise“ eingefügten Übungen, die vom musikalischen Material der Lieder ausgehen, zuweilen Liszt-Transkriptionen entnommen sind und als Hilfsmittel dienen sollen, um die musikalische Substanz zu rekapitulieren, Problemstellen zu bewältigen und Anschlagskultur oder den Umgang mit dem Material in anderen Tonarten zu befördern. Gelegentlich unternimmt Garben sinnfällige Korrekturen am Notentext (Akzent oder diminuendo?) und zieht im Kapitel „Schwanengesang“ mehrmals das Autograph heran, um auf einige in Standardausgaben immer wieder auftretende Fehler hinzuweisen.
Insgesamt stellt sich jedoch die Frage nach der Relevanz einer derart punktuellen Interpretationshilfe: Das musikalische Gesamtverständnis wird hier meist einfach vorausgesetzt, die Textinterpretation primär dem Sänger überlassen (?) – spärliche Anweisungen diesbezüglich bleiben jedenfalls meist etwas unbestimmt. Und auf so manche anekdotisch verpackte Seitenhiebe in Richtung Künstlerkollegen, die hin und wieder als (nicht sehr aussagekräftige) Argumente in der aufführungspraktischen Diskussion herangezogen werden, hätte der Autor wohl besser verzichtet.
Trotzdem finden sich oft gute Ideen (auch wenn der Phrasierungswille zuweilen etwas überhandnimmt), in jedem Fall aber die explizite Anregung, sich detaillierter mit dem Notentext auseinanderzusetzen oder sich endlich die Urtextausgabe zu besorgen – und sei es, damit in Zukunft das leisere Bellen am Flügel wenigstens legitimiert werden könnte.