Paul Hindemith spielt heute nicht mehr eine so zentrale Rolle im Konzertleben wie zu seinen Lebzeiten, doch ist er einer der wenigen Klassiker der Moderne, die bleiben, von denen einige Werke ins ständige Repertoire der großen Orchester eingegangen sind (unter anderem Mathis der Maler-Symphonie, Symphonische Metamorphosen über Weber’sche Themen, Symphonie in Es, Cellokonzert), und dessen Kammermusik in ihrer extremen Variationsbreite unübertroffen bleiben wird.
Natürlich fangen wir an, auch die wirklich vielen bedeutenden Meister neben ihm wahrzunehmen – und ich möchte jetzt hier nur einmal seine deutschen Zeitgenossen Heinz Tiessen, Heinrich Kaminski, Rudi Stephan, Max Butting, Philipp Jarnach, Emil Bohnke, Eduard Erdmann, Boris Blacher oder Edmund von Borck nennen –, wodurch sich Hindemiths Größe etwas relativiert, aber auch in ihrem ganzen Verdienst erst erkannt werden kann. Wie neben ihm Schostakowitsch, Prokofieff oder Milhaud war er einer der ganz großen Handwerksmeister des 20. Jahrhunderts, und alles Ästhetische bleibt daneben Geschmackssache. Wer keine Marschrhythmen und Spielmannszüge mag, wem das Musikantische und der zuweilen Bruegelsch’ derbe Humor missfällt, und wer allergische Reaktionen zeigt, wenn Verdacht auf neugotisches Baumeistertum und affirmative Gewissheit besteht, muss sich ja nicht mit Hindemith beschäftigen. An seiner Authentizität, Originalität und Könnerschaft kann kein Zweifel bestehen.
Die Hindemith-Gesamtausgabe (Schott Music) schreitet beständig voran und hat noch lange nicht ihr Ende erreicht. Es ist wie schon bei Max Reger eine Riesenaufgabe bei einem Mann, von dem man sich erzählt, er habe auch in der Badewanne komponiert. Nun sind die ersten zwei Bände seiner Ballettmusiken erschienen (die mit Streichorchester besetzten Vier Temperamente und Hérodiade stehen noch aus, die frühe Musik zu Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ ist verloren gegangen), und wer an Ballett denkt, dem kommen sicher Ravel, Strawinsky oder Prokofieff in den Sinn, aber doch kaum Hindemith. Dabei ist „Der Dämon“ op. 28 von 1922, ein Tanzspiel in 2 Bildern auf einen Text von Max Krell, auch heute noch sensationell in der Wirkung: Musik vom revolutionären Hindemith auf dem Höhepunkt seiner provokativen Inspiration, wie sie von der Kammermusik Nr. 1 für 11 Instrumente bestens bekannt ist. Hier sind es, falls man die Streicher konsequent solistisch besetzt, zehn Instrumente (Klavier, Flöte, Klarinette, Horn und Trompete), und die Musik besticht ebenso mit barbarischer Wildheit wie mit zärtlicher Eleganz. Bezeichnenderweise ist die Konzertsuite aus dem „Dämon“ als Ganzes überzeugender (sie wird wie diejenige aus „Nobilissima Visione“ in einem späteren Band vorgelegt). Am 26. April 1924 kam in Hamburg erstmals eine zehnsätzige, von Hindemith abgesegnete „Dämon“-Suite zur Aufführung, die endgültige Suite ist demgegenüber geraffter. Im selben Band finden wir auch die Fassung des für Massine entstandenen Francesco d’Assisi-Balletts „Nobilissima Visione“ für kleines Orchester von 1938, und der Folgeband ist der Fassung für großes Orchester von 1939 vorbehalten (beide Bände sind von Luitgard Schader herausgegeben).
Ein echtes Glanzstück der Hindemith-GA sind die umfangreichen Vorworte, die so umfassend und kompetent informieren, dass die fertige Gesamtausgabe zugleich eine ideale Werkmonographie des Komponisten darstellen wird. Hier finden Forscher und Dramaturgen so gut wie alles, was relevant für das jeweilige Werk und die Umstände seiner Entstehung und Rezeption ist. Das Vorwort zu „Nobilissima Visione“ findet sich allerdings ausschließlich im zweiten Band – wer also wirklich Bescheid wissen möchte, muss beide Bände konsultieren, auch wenn er nur die Erstfassung der „Nobilissima Visione“ braucht – die ja eher aufgrund von praktischen Erwägungen existiert, wogegen diejenige für große Besetzung das eigentliche klangliche Potential des Werkes entfaltet. Die Suite aus „Nobilissima Visione“ gehört zu Hindemiths bekanntesten und meistgespielten Orchesterwerken, das komplette Ballett beinhaltet viel weitere Musik von exzeptionellem Wert in einem Troubadour-Elemente integrierenden, neuklassischen Stil, der in vielem deutlich an die „Mathis der Maler“-Musik erinnert. Es ist sehr erfreulich, dass hiermit sowohl „Der Dämon“ als auch beide Fassungen von „Nobilissima Visione“ erstmals in drucktechnisch optimierten, kritisch redigierten Ausgaben vorliegen.
Neu erschienen ist auch der Band „Orchesterwerke 1949–51“, dessen Herausgabe sich der Editionsleiter Giselher Schubert gesichert hat. Er enthält die Sinfonietta in E, ein für das Louisville Orchestra geschriebenes, geistreiches und substanzielles Werk, dem wohl aufgrund seines fast verniedlichenden Titels kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, und die Symphonie „Die Harmonie der Welt“ (wie zuvor schon die Symphonie „Mathis der Maler“ vor der gleichnamigen Oper vollendet, jedoch diesmal mehrere Jahre, bevor Hindemith überhaupt mit seinem Kepler-Bühnenwerk begann). Diese Symphonie lag Hindemith ganz besonders am Herzen.
Als Auftragswerk für Paul Sacher entstanden, wurde sie durch die Aufführungen Wilhelm Furtwänglers berühmt, und die beiden erhaltenen Furtwängler-Aufnahmen sind alleine schon Grund genug, dass viele Menschen diese Musik immer wieder hören, denn im Konzertsaal erklingt sie nur selten. Hier zeigt sich Hindemith einerseits als Konstrukteur und Erfinder von seiner eindrucksvollsten Seite, andererseits ist die massive Orchestration der kraftvollen Tuttistrecken immer problematisch geblieben, zumal, wenn der Dirigent dem Schlagzeug nicht Einhalt gebietet. Es ist jedoch ein Fehlschluss, wenn Schubert in seinem ansonsten exzellenten Vorwort dieses Problem auf Furtwängler zurückführt – im Gegenteil hat Hindemith bald darauf bei seiner Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern von Furtwänglers minutiöser Einstudierung profitiert, und man kann getrost feststellen, dass in seiner DG-Aufnahme die Impulse beider Künstler eine intelligente Fusion eingehen. Beide Werke, die Sinfonietta und die Symphonie „Die Harmonie der Welt“, waren lange als Studienpartituren erhältlich. Für Hindemiths Verhältnisse hat man besonders in letzterem Werk noch erstaunlich viele Druckfehler gefunden, und so liegen hier jetzt definitive Ausgaben vor, die auch zu häufigeren Aufführungen anregen sollten.