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Das Konstruktive und das Fantastische

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Erste Eindrücke von der Bohuslav Martinu Gesamtausgabe bei Bärenreiter Praha
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Ähnlich dem Ungarn Laszlo Lajtha, dem Schweizer Arthur Honegger, dem Polen Alexander Tansman oder dem Rumänen Marcel Mihalovici – um einige seiner bedeutenden Zeitgenossen zu nennen – handelt es sich bei Bohuslav Martinu um einen führenden Meister der sogenannten klassischen Moderne, der in Paris seine eigentliche Inspiration und entscheidende Formung erfuhr.

Die Begegnung mit der Musik Debussys wirkte befreiend auf ihn, und die Ausbildung bei Albert Roussel ließ ihn schnell zum handwerklich souveränen Individualisten werden, der eben nicht der Vernebelung des ‚Debussysmus’ erlag. Martinus schöpferischer Werdegang weist stilistisch interessante Parallelen zu anderen osteuropäischen Nationalkomponisten wie George Enescu, Nikos Skalkottas, Pancho Vladigerov oder Ahmed Adnan Saygun auf, indem es auch bei ihm zeitlebens darum ging, zu einer Vereinigung des volkstümlichen Erbes seiner Heimat mit den technischen und expressiven Errungenschaften der aktuellen Kompositionskunst zu finden.

Nicht allen ist das überzeugend gelungen, und auch bei Martinu könnte man bei oberflächlichem Beobachten den Eindruck haben, er versuche, partout disparate Elemente zusammenzuzwingen. Er ist, wie auch viele andere Meister seiner Generation, bei aller Offenheit für künstlich generierte Tonsysteme stets ein – im umfassenden, alle Dissonanzgrade einschließenden Sinne – tonaler Komponist geblieben, allerdings ein satztechnisch ausgesprochen elaborierter und eigenwilliger, der als Haupteinflüsse neben der tschechischen Volksmusik das englische Madrigal der Renaissance und Debussy nannte. Harry Halbreich, der die exzellente Standardbiographie mit Werkverzeichnis verfasste (bei Schott erhältlich), fügt dem das barocke Concerto grosso hinzu (Corelli war eines von Martinus großen Vorbildern). Martinus Musik hat oftmals etwas überschwänglich vegetativ Wucherndes, was bei mittelmäßigen Aufführungen den Eindruck der Überladenheit erwecken kann, doch hat ein so phänomenaler Dirigent wie Jirí Belohlávek bewiesen, dass in Martinus Symphonien auch im gewaltigsten Fortissimo noch höchste Transparenz zu erreichen ist, sofern man das Kerngeflecht vom Rankenwerk zu unterscheiden versteht.

In seiner organischen Formungskunst wie auch in der Harmonik, dem Kontrapunkt und der Orchestration ist Martinu ein Magier in der vollkommen undogmatischen Verschmelzung des Konstruktiven mit dem Fantastischen, frei Phantasierenden. Wer seine Musik in ihrem überbordenden Reichtum in allen Genres und ihrer höchst fruchtbaren Vielfalt ein wenig kennt, kann keinen Zweifel hegen, dass er nicht nur der bedeutendste tschechische Meister des 20. Jahrhunderts war, sondern überhaupt eine der zentralen kreativen Erscheinungen seiner Epoche.

Vor drei Jahren hat Bärenreiter Praha, das Nachfolgeunternehmen des ehemaligen Staatsverlags Supraphon, endlich mit der Herausgabe der Martinu-Gesamtausgabe begonnen, und angesichts der akribischen philologischen Gründlichkeit der tschechischen Musikwissenschaftler verspricht dieses Unternehmen, eines der rühmlichsten unserer Zeit zu werden. Mittlerweile sind vier Bände erschienen, die den Blick freigeben auf die frappierende Vielseitigkeit des Meis­ters. Den Auftakt machten die Vierte Symphonie und die Vertonung des babylonischen Gilgamesh-Epos in englischer Sprache. Die Vierte Symphonie von 1945 wird in ihrer strahlenden, dionysischen Pracht und dem unwiderstehlichen Momentum ihrer an Gegensätzen reichen Entfaltung von vielen als Höhepunkt seines Orchesterschaffens angesehen. Abgesehen von der peniblen Beseitigung der Druckfehler der Erstausgabe sind im Anhang auch vier abweichende Passagen der Urfassung wiedergegeben, darunter die drei im 3. Satz gestrichenen Takte, die einst Kubelík unwissendermaßen mit der ersten Platteneinspielung in Umlauf brachte, und die sogar noch in Belohláveks maßstabsetzender BBC-Aufnahme enthalten sind. Die Ausgabe ist übrigens in enger Kollaboration mit Belohlávek entstanden und bildet ein bleibendes Vermächtnis dieses hierzulande kaum erkannten Giganten.

Im „Gilgamesh“ nahm Martinu, in Anbetracht der Vertonung des ältesten unverfälscht überlieferten Epos’ der Menschheitsgeschichte, bewusst den Faden beim Ursprung der westlichen Polyphonie auf: beim Nôtre-Dame-Meister Perotin. Es ist eine in ihrer düs­teren Archaik und melodischen Kargheit unglaublich kraftvolle, stets aufs Wesentliche reduzierte Musik, die zum Ende hin – bei der Anrufung Enkidus, die dazu führt, dass sein Geist aus der Erde wiederkehrt – eine wahrhaft neue, ekstatische Polyphonie evoziert. Was für ein üppiger Melodiker Martinů bei anderen Gelegenheiten war, kann man in dem zuletzt erschienen Band mit den vier volkstümlichen Kammerkantaten auf Texte Miloslav Bureš erfahren. Diese bezaubernden Werke sind in Tschechien Martinus populärste Musik, wenngleich ihre internationale Verbreitung an der Sprachbarriere scheitert. Hier erreicht einer mit einfachsten Mitteln zeitlose Größe. Des Weiteren ist ein erster Band mit Kammermusiken in gemischten Besetzungen erschienen, der neben dem späten Nonett die kurzweiligen Serenaden Nr. 1 und 3, die Rondes und die „Stowe Pastorals“ von 1951 enthält, Letztere mit 2 Sopran-, 2 Tenor- und einer Bassblockflöte, 2 Geigen, Klarinette und Cello besetzt und auch ambitionierten Liebhabervereinigungen wärmstens zu empfehlen.

Vorworte, kritische Berichte und generell die übersichtliche Gliederung erfüllen höchste Standards und nähren nachhaltig die Zielsetzung, das Wirken dieses großen Komponisten im internationalen Musikleben noch umfassender zu verankern.

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