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„Die Änderung, warum hast Du sie gemacht?“

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Mendelssohns Orchesterwerke, in Neueditionen bei Bärenreiter genetisch entschlüsselt
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Während das Gesamtausgabeprojekt Felix Mendelssohn Bartholdy über Jahrzehnte nach und nach das Bild des großen romantischen Klassizisten erhellt, korrigiert und vervollständigt, hat der Bärenreiter-Verlag in wenigen Jahren einen Urtext-Rundumschlag getätigt, überwiegend die Orchestermusik in Ausgaben von Chris­topher Hogwood betreffend, der den Interessierten einen weitgehenden Überblick über die verschiedenen Fassungen ermöglicht, den man sich schon lange wünscht.

Hogwood hat sämtliche Konzert-­Ouvertüren Mendelssohns neu ediert sowie die drei berühmtesten Symphonien: Italienische, Schottische und Reformation. Hinzu kommt Larry Todds Ausgabe des Violinkonzerts in e-Moll. Sieben Werke liegen damit in zwei Fassungen vor: vier Ouvertüren („Meeresstille und glückliche Fahrt“, „Hebriden“, „Ruy Blas“ und „Märchen von der schönen Melusine“), Italienische und Schottische Symphonie, Violinkonzert. Darüber hinaus sind schon vor Jahren exzellente Neuausgaben der beiden Oratorien „Paulus“ und „Elias“ sowie unlängst die sommernachts­traumnahe Goethe-Kantate „Die erste Walpurgisnacht“ erschienen.

Sehen wir einmal davon ab, dass hiermit durchweg in ausgezeichnetem Druckbild übersichtlich gestaltete, sorgfältigst und mit Blick auf die Praxis edierte Partituren und Aufführungsmaterialien vorliegen, so interessiert uns natürlich am meisten, wo wir wirklich Neues über Mendelssohn erfahren können. Was durchgehend das Studium zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre macht, sind vor allem die Orches­trations-Verbesserungen zwischen ers­ter und zweiter Fassung, höchst aufschlussreich etwa in der „Melusine“-­Ouvertüre (BA9051) oder auch im „Ruy Blas“ (BA9054), wo die Änderungen der musikalischen Substanz eher geringfügig sind. Ganz anders etwa in „Meeresstille und glückliche Fahrt“ (BA9057) oder den „Hebriden“ (BA9053, Taschenpartitur TP395), wo der erregte Mittelteil in der Erstfassung weit ausufernder war: Hier hat Mendelssohn auch an der Form weitergefeilt. Er war besessen vom Verbessern,  oft genug mit offenkundigem Erfolg, wie etwa im Violinkonzert, wo es vor allem die viel ausladendere Solokadenz ist, die in der Endfassung frappiert.

In der Schottischen Symphonie (BA 9093), deren Dokumentation die Herausgeber vor besonders verzwickte Probleme stellte, sind lediglich die Ecksätze in der früheren Fassung beigegeben (und umrahmen in der Partitur die zusammenhängend gedruckte Endfassung), da die Eingriffe in die Mittelsätze marginal waren, und auch hier kann man minutiös studieren, wie der Meis­ter zu Werke ging und sein Werk immer feiner modellierte. Die eigentliche Sensation ist die Partitur der Italienischen Symphonie (BA9094). Im Konzertleben heimisch ist seit jeher die Erstfassung, und in dieser Gestalt hat sich das Werk als eines der beliebtesten der gesamten Literatur etabliert. Mendelssohn war natürlich auch mit diesem grandiosen und rundum makellosen Meisterwerk unzufrieden und machte sich sofort an die Revision der Sätze zwei bis vier. Und die fiel drastisch aus. Auffallend ist, dass Mendelssohn vor allem an dem immer weiter wie ein Besessener feilte, was seine größten Stärken sind: an der Melodie und der Instrumentation. An den herrlichen Kopfsatz seiner Italienischen wagte er sich freilich nicht, da er sah, dass hier sozusagen kein Stein auf dem anderen bleiben würde. 

Gott sei Dank, können wir eigentlich nur sagen… Denn was er mit der wundervollen, an seinen Lehrer Zelter „König von Thule“ gemahnenden Melodie des zweiten Satzes in der zweiten Fassung anstellte, dürfte für viele schlicht ein Schock sein. Nicht, dass das Ergebnis „schlechter“ wäre – nur: die Frage „Warum“ drängt sich schon auf. Nicht nur uns, auch schon seiner Schwester Fanny, die ihm schrieb: „Die Änderung in der ersten Melodie gefällt mir nicht recht, warum hast Du sie gemacht? Um das viele a zu vermeiden? Die Melodie war aber natürlich und schön. […] Im Ganzen glaub ich, gehst Du zu leicht daran, ein einmal gelungenes Stück später umzuarbeiten, bloß weil Dir dies und jenes dann besser gefällt.“ Und so ist es denn zu dem kuriosen Fall gekommen, dass Mendelssohn nicht nur die ganze Symphonie verworfen hat, – seine später populärste Symphonie! –, sondern dass man bis heute überall die Erstfassung spielt und von seinen Verbesserungen fast nur die Musikwissenschaft Kenntnis genommen hat. Es steht zu fürchten, dass sich bei allen Meriten die Endfassung der letzten drei Sätze nie durchsetzen wird, und dass das letztlich auch gut so ist. Doch die Alternativen liegen jetzt in sieben Fällen endlich jedermann zur Einsicht vor und werden sicher künftig öfters zu hören sein. Dies ist nichts weniger als eine editorische Großtat.

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