Der unbegleitete Geigenton als Natur- oder als Ausnahmezustand; als introvertierter Dialog mit dem Werk oder als imaginäre Kadenz vor einem Orchester das inne-, einem Publikum, das den Atem anhält. Sie schließen sich nicht aus, diese beiden Grundhaltungen des Violin-Solo-Spiels, doch sie markieren die Pole, zwischen denen es abzuwägen gilt. Und es dürfte kein Zufall sein, wenn das Pendel bei einem Geiger wie Tomo Keller, der sich gegen die Solisten- und für die Orchesterkarriere entschieden hat, deutlich in Richtung werkbezogener Innenschau ausschlägt. Wohl dem Orchester, das, wie nun die Essener Philharmoniker, einen solchen Konzertmeister hat!
Dass eine weitere Preisträgerin des Deutschen Musikwettbewerbs ein ganz ähnliches Programm für ihre erste Einspielung gewählt hat, ist schon bemerkenswert. Susanna Henkels Zusammenstellung ist vielleicht noch eine Spur stringenter, verzahnt sie doch Bachs E-Dur-Partita mit Ysayes zweiter Solosonate, die mit einem Zitat aus dem Partiten-Preludio beginnt, und hängt an Bartóks Solowerk mit Isang Yuns „Königlichem Thema“ ein weiteres direkt auf Bach bezogenes Werk an. Yun nimmt das Thema des „Musikalischen Opfers“ zum Ausgangs- und Angelpunkt einer achtteiligen, unerbittlich fortschreitenden Variationsreihe, der Susanna Henkel suggestiv Gestalt verleiht. Im Gegensatz zu Keller scheint sie der Musik immer ganz nahe kommen zu wollen, nimmt kleine Unsauberkeiten, Nebengeräusche, herbe Tongebungen in Kauf und gewinnt dadurch bei Ysaye und vor allem bei Bartók das an Glaubwürdigkeit, was sie in den etwas eckig differenzierten Phrasierungen bei Bach an musikalischem Fluss verliert.
Elena Denisovas mit pastosem Rubato durchsetzter Bach-Zugriff nimmt sich demgegenüber leicht verstaubt an. Im Zentrum des Interesses steht bei ihr aber ohnehin Mikhail Kollontajs weit ausgreifende Partita Testament, eine technisch wie vom Sujet her gewichtige Komposition, die in elf Stationen nichts Geringeres als ein an der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu entlang gedachtes Geheimnis des Glaubens zu enträtseln versucht. Denisova fühlt sich hier hörbar sicherer, gibt sich dem nicht wirklich dankbaren Violinpart bedingungslos hin und erzielt so Momente von eindringlicher Spannung, selbst wenn Kollontaj diese nicht durchgängig aufrecht erhalten kann.
Auch andere aktuelle Violinaufnahmen stehen für die von der allgemeinen Marktsättigung diktierte, nichtsdestotrotz erfreuliche Tendenz, den Karrierefrühling nicht mit den mittlerweile nur mehr vermeintlich marktgängigen Repertoire-Rennern zu unterfüttern, sondern Profilierung auch durch das Besetzen von Nischen zu betreiben. Latica Honda-Rosenberg, erste deutsche Finalistin in der Geschichte des Tschaikowsky-Wettbewerbs, legt mit dem hochkompetenten Avner Arad am Klavier auf zwei CDs eine packende Gesamteinspielung der Violinkammermusik Ernest Blochs vor. Die Bandbreite seines Schaffens, von der aufwühlenden Kraft der beiden Sonaten über die konzentrierte Klarheit der Bach’schen Geist atmenden, nicht bloß herbeizitierenden Solosuiten bis hin zu seiner ganz eigenen Ausformung einer „Musica hebraica“ ist in Honda-Rosenbergs differenziert fülligem Ton, ihrer technischen Versiertheit und ihrem sicheren Stilgefühl bestens aufgehoben.
Überaus lohnend auch das Plädoyer für Erich Wolfgang Korngold, das Sonja van Beek und Andreas Frölich beim immer stärker zum Korngold-Spezia-listen avancierenden Label cpo abgeben. Bis auf die beeindruckende Reife der frühen, groß dimensionierten Violinsonate des gerade mal 15-jährigen Wiener Wunderkinds ist die Beute zwar weniger gehaltvoll, besteht das übrige Œuvre Korngolds für Violine und Klavier, das komplett auf dieser einen Scheibe Platz hat, eher aus Gelegenheitswerken, Opernauskopplungen und anderen Zweitverwertungen. Doch schmälert dies den Wert der Aufnahme keineswegs, vielmehr erweist sich diese Schau auf einen Teilaspekt von Korngolds Schaffen als ein dessen musikalische Persönlichkeit faszinierend widerspiegelndes Pars pro toto, das die Geigerin und ihr Partner mit einer nicht unpassenden Spur von kontemplativer Zurückhaltung servieren, ohne ins nüchtern Neutrale zu verfallen.
Undankbarer erscheint auf den ers-ten Blick die Aufgabe, Max Regers kammermusikalisch durchgearbeitem, kaum einmal emphatisch das Geigerische entfaltendem Tonfall gerecht zu werden. Im Fall der Sonate op. 107 erklärt dieser sich aber ganz einfach aus der ursprünglichen Version für Klarinette und Klavier, die Reger nicht virtuos zu kolorieren für nötig erachtete. Zu Recht, wie Ulf Wallin, der im Kreis dieser Neuerscheinungen erfahrenste Geiger, zusammen mit Roland Pöntinen in seiner, die cpo-Serie in die dritte Runde führenden Aufnahme deutlich macht. Und doch ist man bei aller Sorgfalt und Wärme der Tongebung ein wenig erleichtert, wenn mit den beiden Miniaturen wenigstens für zwei Zugaben die Zügel thematischer Durcharbeitung losgelassen werden.
Einen Live-Mitschnitt von 1999 hat man bei Sony für die erste CD des damals 20-jährigen Daishin Kashimoto ausgewählt. Ein Risiko? Kaum, wenn jemand unter Konzertbedingungen so makellos geigt wie der Japaner und die Aufnahme so stark nachbearbeitet ist, dass nur der Applaus die Präsenz des Publikums verrät. Sein Ton ist geschliffen präzis, leicht gläsern, aber immer präsent, was der zweiten Prokofieff-Sonate und Takemitsus „Hika“ bestens bekommt, Beethovens Frühlingssonate dagegen etwas glättet.
Den musikalisch stärksten Eindruck unter den jungen Interpreten hinterlässt zweifellos der 26-jährige Daniel Hope. Er verfügt über die größte Bandbreite an Gestaltungsmöglichkeiten, das differenzierteste Vibrato und strahlt überdies eine bezwingende interpretatorische Autorität aus. Nach zwei profiliert auf die Moderne gerichteten diskografischen Blicken (darunter Schnittke, Takemitsu und Penderecki) lenkt er in seiner neuen Nimbus-Einspielung die Aufmerksamkeit auf spezifisch britisches Repertoire, was die PR-Naivlinge bewog, Hope für das Cover ausgiebig vor dem Union Jack posieren zu lassen. Hopes Engagement für Elgars nobel abgedämpften Überschwang, Finzis schwelgerische, nie harmlose Melodik und Waltons formal souverän vorangetriebene Durchführungen ist aber nie bloße Pose, ist in jeder Phase ernst zu nehmende, von Simon Mulligan am Klavier bestens mitgetragene Aufklärungsarbeit in Sachen Englische Kammermusik. Statt in Bannerwerbung hätte Nimbus also lieber in eine Übersetzung des Booklets investiert, in dem Hope, wenn auch nicht immer präzis, so doch sympathisch für das eingespielte Repertoire wirbt.
Diskografie
: Partita Nr. 1, h-Moll; Bartók: Sonate für Violine solo; : Sonate Nr. 3, d-Moll; Tomo Keller (Violine solo)
Ars Musici Primavera AMP 5092-2 : Partita Nr. 3, E-Dur; Ysaye: Sonate Nr. 2, a-Moll; : Sonate für Violine solo; : Königliches Thema; Susanna Henkel (Violine solo)
The Spot Records 28869-3: Partita Testament op. 30; : Partita Nr. 2, d-Moll; Elena Denisova (Violine solo)
: Sonaten Nr. 1 und 2; Mélodie; Baal-Shem; Abodah; Nuit exotique; Suite hébraique; Suiten für Violine solo Nr. 1 und 2; Latica Honda-Rosenberg (Violine), Avner Arad (Klavier)
Etcetera KTC 1236
Arte Nova 74321 76810 2: Sonate in G, op. 6; Tanzlied des Pierrot; Mariettas Lied; Caprice fantastique „Wichtelmännchen“; Serenade aus der Ballettpantomime „Der Schneemann“; Gesang der Heliane; Much ado about nothing op. 11; Sonja van Beek (Violine), Andreas Frölich (Klavier)
: Sonate B-Dur op. 107; Kleine Sonate d-Moll op. 103 B; Petite Caprice g-Moll; Romanze g-Moll; Ulf Wallin (Violine); Roland Pöntinen (Klavier)
cpo 999 709-2 (Vetrieb: jpc)
cpo 999 725-2 (Vertrieb: jpc): „Frühlingssonate“; : Violinsonate Nr. 2 d-Moll; : Hika; Daishin Kashimoto (Violine), Itamar Golan (Klavier)
Sony SK 89454: Sonate e-Moll op. 82; : Elegy; : Sonata for Violin and Piano; Daniel Hope (Violine), Simon Mulligan (Klavier)
Nimbus NI 5666