„La mer“ ist, zusammen mit dem „Prélude à l’après-midi d’un faune“ und der „Ibéria“ aus den „Images“, der Klassiker unter Claude Debussys Orchesterwerken und für viele der Höhepunkt seines Schaffens, was die symphonische Korrelation über die kontrastierenden drei Sätze hinweg betrifft.
Wo es zudem eines der populärsten Werke in unseren Konzertsälen ist, dürfte umso mehr verwundern, dass im Finale von „La mer“ ein großes Fragezeichen stehengeblieben ist, das aufmerksamen Partiturkennern nicht entgangen sein dürfte. Wer nicht gerade über den seit einem guten Jahrhundert vergriffenen Erstdruck verfügt, dem mag aufgefallen sein, dass insbesondere in Aufführungen einiger großer Dirigenten in den Takten 237 bis 244 Trompeten und Hörner ein kontrapunktierendes Thema spielen, das in der Partitur nicht zu finden ist.
Dieses die Aufmerksamkeit unwillkürlich in Beschlag nehmende Motiv, so besagt eine Legende, hat Debussy ersatzlos herausgestrichen, nachdem ihn jemand darauf aufmerksam gemacht haben soll, es wirke wie ein Puccini-Plagiat. Andere, wie der Herausgeber der neuen Bärenreiter-Urtext-Ausgabe Douglas Woodfull-Harris, sprechen in Ermangelung anderer Quellen die Vermutung aus, es sei vielleicht zu massiv orchestriert gewesen. Aber warum? Dann hätte Debussy ja die je zwei Hörner und Trompeten auf eine einfache Besetzung reduzieren können. Vielleicht liegt einfach nur eine Vergesslichkeit vor, eine nicht ausgeführte Änderung. Das Motiv der Streichung bleibt jedenfalls ein Rätsel, und wenn die Aufführung kultiviert ist wie etwa die überlieferten Mitschnitte Sergiu Celibidaches, ist die ursprüngliche Fassung mit dem dynamischen Kontrapunkt viel erfüllender und ergiebiger als die vergleichsweise leere Variante, die in der revidierten Partitur, wie sie bis auf den heutigen Tag standardmäßig überliefert ist, unter allen unkundigeren Maestri gängige Praxis geworden ist.
Herausgeber Woodfull-Harris ist der erste, der in salomonischer Weise die Urfassung wieder herstellt, indem die betreffende Passage in Partitur und Stimmen in eckigen Klammern gesetzt ist. Da auch ansonsten in dieser Ausgabe alles stimmt, soweit ich es kontrollieren konnte, und auch das Satzbild – wie so oft bei Bärenreiter – optisch optimal ist bezüglich Dichte und Transparenz des Notensatzes und obendrein ein exzellent informierendes Vorwort des Herausgebers mit anhängendem akribischen kritischen Bericht offeriert, muss diese Ausgabe als uneingeschränkte Referenz in Sachen „La mer“ gelten. Mögen sich künftige Herausgeber in derlei strittigen Fragen ein Vorbild daran nehmen und nicht nur ähnlich gründlich recherchieren, sondern die alternativen Varianten – wenn möglich – ebenfalls in die Partitur übernehmen, anstatt sie – falls es überhaupt geschieht – nur im kritischen Bericht auszuweisen.
Überhaupt ist die Debussy-Ausgabe bei Bärenreiter, für die neben Woodfull-Harris mit Regina Back und – beim soeben erschienenen ersten Band der „Préludes“ – Thomas Kabisch höchst qualifizierte Experten verantwortlich zeichnen, ein Glücksfall. So liegen auch mit dem „Prélude d’après-midi d’un faune“, der Cellosonate, dem Streichquartett und „Syrinx“ für Flöte solo uneingeschränkt zu empfehlende Ausgaben vor, und die Klaviermusik wird nach und nach komplett neu ediert: vor den „Préludes“ sind schon die „Arabesques“, „Suite bergamasque“, „Pour le piano“, die beiden Bände der „Images“ und „Children’s Corner“ erschienen. Wir dürfen sehr gespannt sein, was bis zum Debussy-Jahr 2018 folgen wird.
Claude Debussy: La mer. Trois esquisses symphoniques. Partitur, Kassel etc., Bärenreiter BA 7880, € 87,00 (Aufführungsmaterial und Studienpartitur ebenfalls erhältlich)