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Facetten des Bekannten, Impulse durch Raritäten

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Frédéric Chopin, Richard Strauss – Neueinspielungen, Wiederveröffentlichungen, Sammeleditionen
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Der 150. Todestag Frédéric Chopins, der 50. Todestag Richard Straussens schlagen sich merklich in den internationalen Schallplattenkatalogen nieder. Dies führt im Umkreis der Klavierwerke des polnischen Komponisten zu starker Vermehrung des bekannten Repertoires – mit besonderer Betonung aufführungspraktischer und interpretatorischer Feinheiten (und natürlich auch Grobheiten). Das Sologesamtwerk Chopins ist bis auf die letzte Stelle hinter dem literarischen Komma erschlossen. Am gründlichsten – nämlich mit so gut wie allen zu Lebzeiten noch nicht publizierten Jugendarbeiten – haben es die Pianisten Vladimir Ashkenazy (Decca) und Nikita Magaloff (Philips) dokumentiert, während der Franzose Cyprien Katsaris für Sony auf bestem Wege war, die allerumfangreichste Einspielung vorzulegen, doch die Wehen und Leiden der Industrie führten dazu, daß auch sein Vertrag gekündigt wurde. Von den älteren Interpreten war es der Chopin-Preisträger des Jahres 1955, Adam Harasiewicz, der für Philips einen Großteil der Solostücke und einen Teil der Werke für Klavier und Orchester einspielte. Garrick Ohlsson folgte ihm mit Vollständigkeitsambitionen, zunächst für EMI, in letzter Zeit für das Label Arabesque. Etwas anders stellt sich die Situation bei Richard Strauss dar, denn noch immer warten viele seiner Jugendwerke auf diskographische Erschließung. Eine Fülle seiner Studien- und Gelegenheitsarbeiten, die im Werkverzeichnis keine Opus-Zahl erhielten, sind allenfalls Kennern bekannt. Veranstaltungen wie die auf Strauss spezialisierten Festtage in Garmisch-Partenkirchen sind emsig dabei, Kammermusikwerke einem interessierten und oft auch ehrlich überraschten Publikum nahezubringen. Und es sind auch engagierte Interpreten im engen Schulterschluß mit mutigen Firmen, die sich gezielt oder auch in größerem Umfang des abseitigen Strauss annehmen. Die bei Koch in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk verlegte Serie „Der unbekannte Richard Strauss“ legt davon Zeugnis ab, wenngleich nicht alles, was dort protegiert wird, den Normen der Unbekanntheit entspricht, wie etwa die Orchester-Fantasie „Die Frau ohne Schatten“ (Vol. 4) oder die Walzer aus dem Rosenkavalier (Vol. 5). Aus der Menge der aktuellen Chopin-Veröffentlichungen möchte ich drei etwas näher vorstellen. Jene mit dem immer noch jungen Evgeny Kissin und mit dem exzentrischen Ivo Pogorelich als Beispiele technisch superbrillanter, von der Auffassung her eigenwilliger, im Spezialfall bis zur Ungemütlichkeit gereizter, ja überreizter Detail- und Großformbehandlung, sowie eine Aufnahme des e-Moll-Konzerts mit Vladimir Ashkenazy in der Personalunion des klavierspielenden Dirigenten. Sie ist aufschlußreich im Hinblick auf die Problematik einer rasanten Dirigierkarriere mit manchem Defizit im Bereich der pianistischen Geschmeidigkeit. Im August des vergangenen Jahres hörte ich Evgeny Kissin in einem Salzburger Festspielkonzert mit den vier Balladen von Chopin. Der aggressive, den Hörer mit Klang, aber auch mit purer Lautstärke (und Tempo!) überflutende Tonfall wirkte irritierend, freilich auch verständlich, denn Kissin befindet sich in einer Phase der Orientierung und des künstlerischen Freischwimmens, wodurch sich manche Übertreibungen erklären und als vorübergehend einordnen lassen. Die hier vorliegenden Einspielungen der Balladen stammen aus demselben Zeitraum. Sie zeigen, daß sich Kissin im Studio beherrschter, ohne jeden Drang, sich äußerlich beweisen zu müssen, mit den bekannten Partituren auseinandersetzte: klar in der Detaildiktion und klar in der bald schwellenden, bald ersterbenden Gesamtanlage dieser Erzählungen. Es ist ein urgesundes, metallisch-körperliches Klavierspiel von prächtiger Briowirkung. Kissin nimmt sich Zeit, die großen Eruptionen (etwa am Ende der g-Moll-Ballade oder vor dem Finale des f-Moll-Stückes) sinngebend vorzubereiten. In den schnellen Durchgangsstrecken beweist er genügend Umsicht, im Wirbel der kleinen Noten die impulsgebenden Akzente (etwa der linken Hand) einzufügen. Dennoch: die denkwürdigsten Momente sind Kissin im Verlauf der Berceuse und in den fabelhaft licht gehaltenen Brillanzkombinationen des E-Dur-Scherzos gelungen. Weicher, traumverlorener, indirekter beleuchtet läßt sich das Opus 57 wohl kaum aus den Ta- sten streicheln, auch wenn Puristen anmahnen werden, daß Kissin das rechte Pedal über weite Strecken gedrückt hält. Motorisch beherrschter, sanglich feinfühliger wird man das b-Moll-Scherzo nicht allzu oft zu hören bekommen. Starkes Rubato prägt die Wellenform der Barcarolle zuweilen so reichlich, daß man schon an Offenbach denken möchte. Nach seinen aufregenden, im gestalterischen Ansatz und in den modulatorischen Einzelentscheidungen herausfordernden Ravel- und Mussorgsky-Einspielungen wagt Ivo Pogorelich zum Chopin-Jahr 1999 eine völlig ungewöhnliche Gesamtaufnahme der vier Scherzi. Die CD erinnert mit knapp 42 Minuten Spieldauer an die geizigen Urzeiten der Compact Disc, aber in diesem Zeitraum investiert der schwierige Einzelgänger ein Vielfaches an interpretatorischer Eigenwilligkeit als die meisten seiner Kollegen in dickleibigen Kassetten. Pogorelich erinnert schon mit dem ersten Schlag und mit den ersten, geradezu irrwitzig vorangetriebenen h-Moll-Sequenzen des Scherzos op. 20 an die Grundmuster einer unvoreingenommenen Textdiagnose, wie sie für die großen Alten des Klavierspiels im vorigen Jahrhundert charakteristisch war. Es ist, als ob sich der Pianist ohne jedes Vorbild, ohne jede diskographische Vorjustierung an die Arbeit gemacht hätte. Die Noten vor den Augen, die Klaviatur unter den Händen, das innere Ohr, das musikalische Gewissen auf feinstufigen Empfang eingestellt – so scheint er lesend und lauschend, forschend und wagend eine stürmische Liebesbeziehung zu den wilden, zu den zarten Begebenheiten dieser vier Scherzo-Welten aufgebaut zu haben. Insofern könnte man Pogorelichs herrliche Selbstherrlichkeit als konservativ, als altmeisterlich im Sinne der faszinierenden (Un-) Taten eines Paderewski, eines de Pachmann, des jungen Arthur Rubinstein bezeichnen, aber keiner von ihnen verfügte über eine so fabelhafte Technik (von der Qualität Zuverlässigkeit erst gar nicht zu reden!). So ereignen sich diese vier scherzhaft-düsteren Kapitel der Chopinschen Traditionsspreizung als Wechselbäder des Wundersamen, als Spiegelungen des Keuschen und des Brutalen. Und trotz aller Detailextravaganzen steuert Pogorelich mit strömender, unumkehrbarer Kraft auf die exaltierten Finalpassagen zu. Ein Feuerwerker, der Regie führt und sich niemals die Hände verbrennt! Erstaunlich spät bietet Vladimir Ashkenazy Chopins e-Moll-Konzert auf Schallplatte! Seine Version des f-Moll-Werkes stammt ja aus der Frühzeit seiner Decca-Aktivitäten – und an jene schlanke, glanzvolle Deutung erinnert man sich jetzt mit etwas Wehmut, denn der umtriebige Musikant engt den Ausdrucksradius von Opus 11 auf kammermusikalische, tendenziell etwas trockene, in den großen Etüden-Strecken merkwürdig vorsichtige Erzähltechnik ein. Das dürfte weniger mit der Doppelfunktion Solist/Dirigent zu tun haben (eine Plattenpremiere!), als mit Ashkenazys klavieristischer Verfassung zum heutigen Zeitpunkt. Er nimmt Chopin zögerlich, punktuell, ohne weite Bögen, quasi prima vista, mit gelegentlich starken Verzögerungen, im virtuosen Passagenwerk routiniert mit kleinen Holprigkeiten (Finale). Wer eine nachdenkliche Version bevorzugt, der wird sich weiterhin an Gilels halten, wer einen natürlich-jugendlichen Chopin favorisiert sei auf die alte Harasiewicz-Aufnahme verwiesen. Konkurrenzlos ist Ashkenazy freilich mit der Chopin/Glasunow-Zugabe. Hier brillieren die Berliner Deutschen mit einer schleunigst genommen A-Dur-Polonaise und duftigen Tanzbewegungen. Unter den Strauss-Editionen der letzten Zeit behauptet Kent Naganos Aufnahme der Erstfassung der Ariadne auf Naxos (mitsamt dem Bürger als Edelmann) eine Sonderstellung. Ein nicht nur namhaftes, sondern auch alliiertes, im Vortrag wendiges, charakterzündendes Sängerensemble verbindet sich mit dem Opernorchester Lyon zu einer leidenden und lebenslustigen Gemeinschaft, wie sie in dieser Schallplattensparte selten anzutreffen ist. Nicht ganz auf diesem hohem künstlerischen (und aufnahmetechnischen) Niveau bewegen sich Gustav Kuhn und eine Solistenauswahl, die vom Philharmonischen Orchester Marchigiana immerhin rührig begleitet und abschattiert werden (Guntram). Eine Arabella-Aufnahme aus dem Teatro La Fenice unter Meinhard von Zallinger spiegelt die ganze Problematik von CD-Restaurationen wider, denn weder die Aufzeichnungstechnik, noch das Orchester boten im italienischen Alltags- und Stagionebetrieb Leistungen, mit denen der Plattenenthusiast sein Glück finden möchte. Hier heißt es aufpassen, eventuell im Laden hineinhören, um das Gewünschte vom Unerwünschten zu scheiden. So wird man sich in diesem Strauss-Jahr mit gutem Grund auf Raritäten konzentrieren, wie etwa ein Leinsdorf-Arrangement von Zwischenspielen aus der „Frau ohne Schatten“ (löblich vom Minnesota Orchestra verfügt) oder die artifiziellen Couperin-Orchestrierungen, die von der Londoner Academy unter Marriner elastischer, aromatischer übermittelt werden als in einer Bamberger Produktion unter Ricken-bacher. Hier allerdings, in der sech-sten Folge „Der unbekannte Richard Strauss“ werden noch weitere Couperin-Übertragungen unter dem Motto Divertimento kredenzt – allesamt anmutige Kleinigkeiten mit hohem tänzerischen und gesellschaftlichen Gehalt. Diese Koch-Reihe mit (zumeist) unbekannten Strauss-Stücken ist verantwortlich kommentiert, unterhaltsam in den bühnendramatischen Schalkhaftigkeiten („Des Esels Schatten“), lehrreich im Bereich der sinfonischen Talentbeweise, amüsant in den Phasen frühester Orchesterstreiche(reien). Verhältnismäßig unbekannt sind immer noch die beiden Klaviertrios, um die sich das Monticelli Trio mit kompaktem Klang zumindest in groben Zügen verdient macht. Hier wäre im Klavierpart etwas von der beherzten Differenziertheit am Platze gewesen, die Stefan Vladars Aufnahme der Solo-Hauptwerke op. 3, op. 5 und op. 9 auszeichnet. Seine Version ziehe ich der französischen, im Programm identischen mit Braley vor, der die Stimmungsbilder nicht annähernd so liebevoll, die Sonate nicht annähernd so spannungsvoll inszeniert wie der Wiener Pianist. Man fühlt sich veranlaßt, ihm zu wünschen, er würde immer so gründlich arbeiten wie hier. Peter Cossé Diskographie Frédéric Chopin Balladen Nr. 1–4, Berceuse, Barcarolle, Scherzo Nr. 4; Kissin; RCA/BMG 09026 63259 2 Klavierkonzerte Nr. 1 und 2, Krakowiak, Va-riationen op. 2, Fantasie op. 13, Andante spia-nato et Grande Polonaise; Weissenberg; Or-chestre de la Sociète des Concerts du Con-servatoire, Skrowaczewski; EMI 5 733172 (2 CD) Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll Glasunow, Chopiniana op. 46); Ashkenazy (Klavier und Leitung); Deutsches Symphonie-Orchester Berlin; Decca 460 019-2 4 Scherzi; Pogorelich; DG 439 947-2 Richard Strauss Arabella; Schnapka, Ludwig, Muszely, Malta, Paskuda, Beresford u.a.; Orchestra del Teatro La Fenice, Zallinger; Mondo Musica MFDH 10051 (3 CD) Ariadne auf Naxos (Erstfassung mit “Der Bürger als Edelmann“); M. Price, Jo, Win-bergh, Schäfer u.a.; Orchestre de l’Opéra National de Lyon Nagano; Virgin classics 5 45111 2 (2 CD) Guntram; Woodrow, Wachutka u.a.; Orchestra Filarmonica Marchigiana, Kuhn; Arte Nova 74321 61339 2 (2 CD) Der Bürger als Edelmann op. 60, Tanzsuite (nach Couperin); Academy of St. Martin in the Fields, Marriner; Philips 446 696-2 Heldenleben, Zwischenspiele „Die Frau ohne Schatten“ (arr. Leinsdorf); Minnesota Orchestra, Que; Reference Recordings 83, Taillefer op. 52, Wanderers Sturmlied op. 14, Die Tageszeiten op. 76; Botha, Volle, Lott; Ernst-Senff-Chor Berlin, Dresdner Phil-harmonie, Plasson; EMI 5 56572 2 Klavierstücke op. 3, Sonate op. 5, Stimmungsbilder op. 9; Vladar; Koch 3-6530-2 Klavierstücke op. 3, Sonate op. 5, Stimmungsbilder op. 9; Braley; harmonia mundi France HMC 901642 Klaviertrios Nr. 1 und Nr. 2, Ständchen AV 168, Festmarsch, Arabischer Tanz und Lie-besliedchen; Graham, Monticelli Trio; ASV 1026 Der unbekannte Richard Strauss Vol. 1 – Frühe Orchesterwerke: Schneiderpolka, Serenaden Es-Dur und G-Dur, Gavotte in D u. a.; Wilde Gung’l, Opela; Koch 3-1533-2 Der unbekannte Richard Strauss Vol. 2 – Des Esels Schatten; Ustinov, Kohn, Büchner, Ejsing u.a.; Rundfunkchor und Rundfunk-sinfonieorchester Berlin, Rickenbacher; Koch 3-1792-2 Der unbekannte Richard Strauss Vol. 3. –Sinfonien in d und f; Rundfunk-Sinfonie-orchester Berlin, Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Rickenbacher; Koch 3-6532-2 Der unbekannte Richard Strauss Vol. 6 – Tanzsuite und Divertimento nach Klavierstücken von Couperin; Bamberger Symphoniker, Rickenbacher; Koch 3-6535-2

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