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Freiheit atmend

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Gija Kantscheli: Sinfonie Nr. 3; Arvo Pärt: Sinfonie Nr. 3, Fratres (Version VI); Londoner Philharmoniker, Franz Welser-Möst EMI Classics 5 55619 2 Um Arvo Pärts dritte Sinfonie zu verstehen, muß man einmal in Estland gewesen sein, in jenem baltischen Land, das am wenigsten russifiziert wurde, das sich nicht nur durch die geographischen Nähe zu Finnland als quasi-skandinavisch sieht und das als einziges Land der Region keinen blutigen Unabhängigkeitskampf mit dem Übernachbarn hatte, sondern stattdessen eine singende Revolution - denn die estnische Unabhängigkeitsbewegung war zunächst ein gemeinsames Wiederentdecken von Volksliedern. Wer Estland besucht und Finnland kennt, wird finnischen Geist an jeder Ecke spüren: Die gleiche flache seenreiche Weite des Landes, die gleiche gelassene Friedlichkeit seiner Bewohner. Es ist nicht vermessen, zu behaupten, Sibelius hätte nach Überwindung seiner national-patriotischen Phase nicht auch den Esten aus der Seele gesprochen. Wer dies alles nicht weiß, wird mit der Musik (und besonders mit der dritten Sinfonie) Pärts so seine Probleme haben. Das 1971 entstandene Werk wurde in einer Zeit geschrieben, in der sich Pärt von „sowjetischen“ Komponisten im Schostakowitschen Sinne verabschiedete und seine Inspiration zunächst bei Sibelius, später in der Mystik mittelalterlicher Musik suchte. Dieser Weg von Struktur zu Klang ist deutlich im Werk zu erkennen: Hitzing und voller schwer entzifferbarer Geflechte erscheint der erste Satz (daß Franz Welser-Möst gerade da einen klugen Kopf behält und kühn Pärts „Wirrwarr“ entziffert, ist das größte Plus der vorliegenden Aufnahme), während sich im zweiten deutlich rauhe, aber zeitlose Sibeliustöne einschleichen und die Musik klangbetonter wird - gewissermaßen mehr Freiheit atmet. Das zweite Pärt-Werk „Fratres“ hingegen - der minimalistische Hit des Komponisten schlechthin und deswegen von Marketing-Kenner Pärt gleich zehnmal bearbeitet - erweckt den Eindruck eines Lückenfüllers, nicht zuletzt auch, weil die Londoner Philharmoniker die faszinierende Spannung dieser unendlichen Melodie nicht so gestalten können wie das Ensemble „Hortus musicus“, dem das Werk gewidmet ist. Daß sich Covertext und Hülle in genauen Angaben zu Entstehungsjahr und Version noch unterscheiden, verschärft das Bild noch. Neu für CD-Hörer dürfte ein Hinweis sein, der sich im Text zu Kantschelis dritter Sinfonie befindet: „ACHTUNG - Die 3. Sinfonie von Gija Kantscheli ist ein Werk voll extremer plötzlicher dynamischer Gegensätze: Es wird daher bei der Wahl der geeigneten Lautstärke zur Vorsicht geraten, um Schäden am Gerät zu vermeiden“. Bei der ungeheuren Prägnanz, mit der Welser-Möst die dynamische Breite erarbeitet, scheint dieser Hinweis angemessen, denn gerade in Kantschelis Sinfonie wissen die Londoner Philharmoniker zu begeistern, „Dynamik“ heißt bei ihnen nicht nur „besonders laut“ sondern auch „eindringlichstes Pianissimo“ – ganz im Gegensatz zum darauffolgenden „Fratres“. So ergibt sich ein vielfarbiges Bild, das ständig zwischen mystischer Ruhe (der Gesangspart scheint wie geschaffen für Hilliard-Countertenor David James) und ekstatisch-bizarren Einwürfen pendelt und so interessante Berührungspunkte zu Pärts dritter Sinfonie öffnet.

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