Milij Balakirev (1837–1910): Islamey–Fantaisie orientale, 1869/1902/1909, Hrsg.: Norbert Gertsch. Henle 793 (2004)
Milij Balakirev wollte mit seinen Freunden Alexander Borodin, Modest Mussorgski, Cesare Cui und Rimski-Korsakow eine neue russische Nationalmusik schaffen auf der Basis des russischen Volksliedgutes. Seine Sinfonie in C-dur bleibt frisch im Gedächtnis und das legendäre, exotische Virtuosenstück Islamey war stets musikalischer Zündstoff für wagemutige Pianisten, entschlossene Pädagogen und aufgeregte Hörer. Der Nimbus des Außergewöhnlichen begleitete das Werk von Anfang an. Balakirev meinte, nur wenige könnten es technisch und ästhetisch angemessen aufführen, eine Ansicht, die bis zum heutigen Tage gilt. Franz Liszt spielte es vom Blatt und verbreitete es in Europa. Maurice Ravel bewunderte Islamey. Sein Scarbo aus Gaspard de la Nuit war die Antwort: noch schwieriger und komplexer und musikalisch sicherlich bedeutender. Balakirev verwendet als erstes Thema das kaukasische Tanzlied Islamey, als zweites im Mittelsatz ein Volkslied der Krimtartaren und verquickt beide in einem überschäumenden Variationen-Spielablauf. Die neue, mustergültige Henle-Urtextausgabe bietet erstmals eine präzise Notenvorlage im kritischen Abgleich von Autograph (1869) und den jeweils vom Komponisten revidierten Ausgaben von Rahter (1902) und Jurgenson (1909). Der Anhang bringt die verschiedenen Lesarten, einschließlich der Druckfehler, und bietet somit eine verlässliche Neuorientierung für Konzertpianisten und Meisterklassenschüler. Die moderne Klavierpädagogik ist längst so weit, auch dieses kniffelige, unorthodox gesetzte Werk im Unterricht zu erarbeiten. Der Spieler
benötigt jedoch gerade bei diesem 8- Minuten-Stück genaueste Textbeachtung, exakte Technik, nicht zu schnelle Tempi, gehöriges Temperament und neben einem speziellen Sinn für bizarren Klangzauber eine klug gestaffelte Gesamtdisposition. Der Mut zum gesteuerten Risiko gehört auch dazu, denn wie die Praxis zeigt, kippt Islamey leicht in ein blasses Repetitionsgewitter ab.