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Claude Debussy, porträtiert von Marcel Baschet, 1884
Claude Debussy, porträtiert von Marcel Baschet, 1884
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Gleich einem Pfeil, der einsam in die Höhe schießt

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Das Klavierwerk Claude Debussys als Gesamtausgabe und weitere Debussy-Neuheiten bei Henle
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Am 22. August jährte sich zum 150. Mal der Geburtstag von Claude Debussy. Die Dominanz eines anderen Jubilars, John Cage, mag die Sicht auf den Geburtstag des 50 Jahre älteren vielleicht etwas verstellt haben. Ein Blick auf die Neuerscheinungen belehrt uns dann doch eines Besseren. Musikverlage nahmen das Jubiläum zum Anlass, in neuen Ausgaben das Werk Debussys zu würdigen – der G. Henle Verlag sogar in einer Gesamtausgabe aller Werke für Klavier im Urtext.

In einer Annäherung an dieses Großprojekt sei vorab ein Zusammenhang von Tradition und Bedeutung des Klaviers für Debussy herzustellen. Den ersten Klavierunterricht erhielt der französische Komponist von einer Schülerin Chopins. Man darf davon ausgehen, dass sie Debussys von Zeitgenossen vielgerühmtes „weiches, samtenes und elegantes Spiel“ schulte, welches grundsätzlich vergessen ließ, dass die Klaviermechanik Hämmer aufzuweisen hat. Diese Nähe zu Chopin findet ihren Ausdruck auch in der Widmung seiner letzten Klavierwerke, der Etüden von 1915. Obwohl Debussy ausgebildeter Pianist war, scheute er einerseits die Aufführung seiner eigenen Kompositionen, beäugte aber das Spiel anderer Interpreten stets mit kritischem Blick und wusste sich auch auf bissige Art darüber zu äußern. Debussys Klavierwerk lässt sich nicht in die Kategorie des bravourös Effektvollen eingliedern. Virtuosität ist für Debussy nicht primär bedeutsam gewesen. Wie konträr seine kompositorischen Errungenschaften, aus zeitlicher Nähe und im Rückblick, beurteilt wurden, erfahren wir beispielsweise von Gustav Mahler, der giftig züngelte, dass Debussys Musik (im Gegensatz zur eigenen) nicht weh tue. Aber auch der Franzose richtete bitterböse Worte in Richtung Wien: Die modernen Werke „werden immer nur von trüben Funzeln beleuchtet, nie von der Sonne“. Freilich musste Pierre Boulez einige Jahrzehnte später nicht mehr den diskursiven Hebel ansetzen, als er bekannte: Debussys „Position an der Schwelle der neuen Musik gleicht einem Pfeil, der einsam in die Höhe schießt“.

Anmut des Ornaments

Die Werke für Klavier solo wurden in der Reihenfolge ihrer Entstehung in einer dreibändigen Ausgabe herausgegeben (Henle, Klavierwerke, HN 1192, HN 1194, HN 1196). Diese Vorgehensweise erscheint vorteilhaft. Sie verhindert eine Bündelung der Zyklen, die sich sonst anbieten würde. Im ersten Band wird ein Zeitrahmen von 25 Jahren (1880–1905) abgesteckt, in dem vorwiegend Einzelstücke entstanden, aber mit den „Images I und II“ und dem „Pour le piano“ einen ersten Höhepunkt markieren. Der „Danse bohémienne“, wohl für den Unterricht (der Kinder Nadeshda von Mecks) geschrieben und auch heute noch so verwendet, sowie das Prélude aus „La Damoiselle élue“, der eher widerwillig für den Rom-Preis abgelieferten Kantate, sind als erste nachweisbare Kompositionen den „Deux Arabesques“ vorangestellt. Die Arbeit mit der Anmut des Ornaments ist für Debussys Frühstil programmatisch. Erste Anzeichen seiner diatonischen Klangvirtuosität sind in der „Suite bergamasque“ spürbar; „Clair de lune“, eines der überstrapazierten Stücke der Klavierliteratur, nimmt dank der Klangpoesie Debussys daran kaum einen Schaden. Zuweilen stand der Komponist selbst einer Veröffentlichung seiner Werke im Weg, weil er sie für schlecht hielt („Rêverie“).  Den Übergang zum Reifestil symbolisiert die Suite „Pour le piano“, die als Musterbeispiel für Motorik und Vitalität angesehen werden kann. Mit den „Images“ (Heft I) erreicht er schließlich eine Stufe, die er so bezeichnet: „Ich beginne, in meinen inspiratorischen Angelegenheiten klar zu sehen.“

Der zweite Band enthält die Kompositionen für Klavier, die zwischen 1903 und 1909 entstanden. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts mischen Debussys Hauptwerke die bekannten schwebenden, erdenfernen Klänge mit tänzerischer Bewegung und geradlinigem Lyrismus. Eröffnet wird der Band mit „Estampes“, jenen drei Stücken, denen reliefartige Tiefendimensionen, die Wechsel von Nähe und Ferne, in der Musik eingeschrieben sind, gefolgt von zwei markanten Stücken („L’Isle joyeuse“ und „Masques“), die in ihrer Thematik die Klangmagie und Dämonik klar formulieren. „Childrens Corner“ und „The Little Negro“ gehören zu den wenigen Stücken, die für Kinder geschrieben wurden und, mit wenigen Einschränkungen, von ihnen auch gespielt werden können. Das zweite Heft der „Images“ und schließlich die „Préludes“ I können als zentrale Werke des zweiten Bandes angesehen werden. Hier ist eine Perfektionierung des Klaviersatzes spürbar; die Assoziationshilfen, die Debussy als inhaltlich-­expressive Andeutungen den Préludes in Klammern gesetzt anfügt, sollen der Phantasie lediglich eine bestimmte Richtung geben. Die „Voiles“ sind fast völlig auf die Ganztonleiter beschränkt, „Des Pas sur la neige“ kreiselt um hypnotisch wirkende Wiederholungen einer Viertonfolge und die Melodie von „La Fille aux cheveux de lin“ ist von einer Art, die man auf der Straße pfeifen könnte (und man ist überrascht, dass sie überhaupt „komponiert“ werden musste). Maurische Einflüsse betont die spanische Szene „La Sérénade interrompue“.  Der im gleichen Jahr (1910) komponierte Walzer „La plus que lente“, der augenzwinkernd daherkommt, beschließt den zweiten Band.

Nachsinnen über die Antike

Debussys letzte, zwischen 1911 und 1915 entstandene Klavierwerke werden in Band drei zusammengefasst. In den „Préludes“ II bemüht sich Debussy, den  Klavierklang noch kunstvoller (es werden fast stets drei Systeme benö­tigt) und auch raffinierter zu gestalten. Der abstrakte Untertitel „Les Tierces alternées“ (Nr. XI) weist bereits auf die spätere Klangsprache der Etüden. Des Komponisten Nachsinnen über die Antike als erhabene Epoche der Kultur, zu spüren auch in den Préludes „Danseuses de Delphes“ und „Canope“, findet einen Schlusspunkt in den „Six Epigraphes antiques“. Die Sammlung der „Deux Études“ verrät ein wohlverstandenes Festhalten an den Spielregeln. Hatten Chopin und Liszt dieser für pädagogische Zwecke bestimmten Gattung wunderbare Adelsbriefe ausgestellt, so behandelte Debussy genau wie seine Vorgänger in jeder Etüde ein Problem der Klaviertechnik. Sein Augenmerk richtete er primär auf die Kultivierung der Geschicklichkeit, weniger auf Kraft und Geläufigkeit. Es sind die letzten (zyklischen) Stücke, die er dem Klavier anvertraut und die weit bis in die Moderne nachwirken sollten. Diese Wucht vermag die „Élégie“, lent et douloureux, nicht abzuschwächen.

Diese Gesamtausgabe in kompakter Form hat Vor- und Nachteile. Die Vermischung von kleinen Stücken und großen Zyklen, die ja zwangsweise zustande kommt, wenn die Stücke gemäß ihrer Entstehung angeordnet werden, zieht die Überlegung nach sich, wie diese Serie dann sinnvoll zu teilen wäre. Der Henle-Verlag entschied sich für die Dreiteilung, die auch kleinere Stücke an den Schluss setzt. Da der Verlag die meisten Stücke als Einzelstücke (die ja viel praktischer zu handhaben sind!) im Programm hat, wird man sich diese Ausgabe nur zulegen wollen, wenn man eben das Gesamtwerk besitzen möchte, und dann vielleicht auch noch in einer edlen Leinenausgabe (HN 1193, HN 1195, HN 1197). Das Vorwort stammt von François Lesure, der in unermüdlicher Kleinarbeit für jedes einzelne Stück einen Text zusammenzustellen wusste. Der Herausgeber Ernst-Günter Heinemann verfasste die Textgerüste, die vielerlei Informationen über diese Ausgabe enthalten. Es ist bekannt, dass Debussy Eintragungen im Notentext sehr sparsam setzte. Fehlende Fingersätze bedeuteten für ihn eine glänzende Übung, den Widerspruchsgeist zu unterdrücken, der uns dazu treibt, den Fingersatz des Autors möglichst nicht zu benutzen. Diesem Anspruch fühlte sich Hans-Martin Theopold verpflichtet. Auf die leider allzu häufige Praxis, den Notentext mit unnötig vielen Fingersätzen zu versehen, die absurderweise oft sogar in Klammern gesetzte Alternativen enthalten, wurde lobenswerterweise verzichtet. Die saubere graphische Darstellung des Notentextes erleichtert das Einstudieren und auch die Angabe der Taktzahlen erweist sich als hilfreich.

„Marche écossaise“

Das auf eine schottische Pfeifermelodie beruhende Thema der „Marche écossaise (sur un thème populaire)“ (HN 1011) hörte Debussy von einen amerikani­schen General, der ihn um die Ausarbeitung eines Marsches bat. In die Veröffentlichung dieses vierhändigen Stücks wurden drei weitere für zwei Hände, „Tarantelle“, „Ballade“ und „Valse“ – hier im Band I der Gesamtausgabe zu finden – integriert. Mehrere Fassungen für unterschiedliche Besetzungen sind nachweisbar, die auch im Umfang schwanken (der Schluss der Orches­terfassung wurde als Alternative angefügt). Das Thema in a-Moll hat keinen Dominantbezug in Dur, sondern zielt beständig auf ­e-Moll, was sogleich auf eine Querverbindung zur folkloristischen Dudelsackmusik hinweist. Trillerdurchtränkte Passagen kontrastieren mit dem thematischen Material, das in beiden Parts angesiedelt ist und an sich schon miteinander kooperiert.

Werke für zwei Klaviere

Die mit der Partitur von „Prélude à l’après-midi d’un faune“ zeitgleich entstandene Transkription für zwei Klaviere liegt in dieser Neuausgabe im Originaltext vor (HN 1003). Ihr gingen verschiedene Fassungen voraus, ehe sie schließlich 1903 uraufgeführt werden konnte. Diese Tatsache erklärt die zahlreich angebrachten Fußnoten, die auf Abweichungen von der Orches­terfassung hinweisen. „Lindaraja“, 1901 entstanden und zu Lebzeiten des Komponisten unveröffentlicht geblieben, wird von spanischem Kolorit beherrscht (Imitation des Gitarrenklangs und Integration des Habanera-Rhythmus). 

Von eisiger Wut durchzogen thematisieren einzig die drei Stücke „En blanc et noir“ die Grauen des Krieges, während die im gleichen Schaffensrausch entstandene Sonate für Flöte, Viola und Harfe (HN 1026) aufgrund ihrer ungewöhnlichen Klangkombination von Melancholie umwoben wird. Der Titel „In Weiß und Schwarz“ könnte im weitesten Sinn auch auf die Tastatur des Instruments anspielen; der Duo-Klaviersatz wirkt geschliffen und durchkalkuliert. Debussy ist es gelungen, jenseits der Tonalität eine verbindliche Harmonik, einen Schwebezustand zwischen Klang und Semantik zu entwickeln. Die Forderungen einer aufkommenden neuen Ära schien er begriffen zu haben.

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