Am 2. Dezember 2016 stellte das Marinskij-Orchester unter Valeri Gergiev in St. Petersburg eine sensationelle Wiederentdeckung vor: den 1908 zum Andenken an seinen verehrten Lehrer Nikolai Rimsky-Korsakov komponierten und im Januar 1909 unter Felix Blumenfeld uraufgeführten „Chant funèbre“ op. 5 von Igor Strawinsky, das fast ein Jahrhundert lang verschollene ‚missing link‘ zwischen der kurzen Tondichtung „Feu d’artifice“ und dem Ballett „L’oiseau de feu“ (Der Feuervogel). Strawinsky hatte noch Anfang der 1960er-Jahre den „Chant funèbre“ als „mein bestes Werk vor dem Feuervogel“ bezeichnet, doch musste er bedauernd feststellen, dass „die Partitur des Werkes leider in Russland während der Revolution verloren ging“.
Seither hatten viele vergeblich nach dem Stück, das laut Strawinsky „beim Publikum, wie auch bei mir selbst, einen tiefen Eindruck hinterlassen hatte“, jahrzehntelang vergeblich gesucht. Doch die hastig erfolgte Renovierung des St. Petersburger Konservatoriums brachte am 26. Februar 2016 den sensationellen Fund zutage: Hinter vielen anderen Beständen versteckt, entdeckte man bisher unzugänglich gebliebene Materialien, unter welchen sich die kompletten Orchesterstimmen des „Chant funèbre“ befanden. Es handelte sich um den Stimmensatz, der aus der weiterhin verschollenen autographen Partitur von drei Kopisten eilig für die Uraufführung ausgeschrieben wurde, inklusive Eintragungen der Musiker von den Proben unter Blumenfeld.
Strawinsky hat den Aufbau des Werks in seiner Autobiographie so beschrieben, „dass alle Solisten des Orchesters hintereinander am Grabmal des Meisters vorbeiziehen, wobei jeder seine eigene Melodie wie einen Kranz auf dem Hintergrund von tiefem, tremolierendem, die Vibrationen singender Chorbässe simulierendem Gemurmel niederlegt“. Man könnte das Werk der so reich bedachten wie stets von einem mysteriösen Schleier umhüllten und selbst in Fachenzyklopädien kaum gewürdigten und höchstens nebulös abgehandelten Gattung der Cortège zuordnen, als Cortège funèbre in bester Nachbarschaft zu Busoni, Debussy, Vierne oder Bax, aber auch Mussorgsky, Rimsky-Korsakov, Liadov oder Glasunov. Der große Zauberer der Orchestration, der im Feuervogel die Brücke vom Vorbild Rimsky-Korsakov in die Moderne schlagen sollte, wirkt auch hier unwiderstehlich, doch bedarf es gewiss, zumal in den zarten Übergängen sensiblerer, weit schauenderer und innigerer Aufführungen als der ersten Wiederaufführung unter Gergiev, um das Potential dieses formal und in der Satzweise ziemlich schlicht gehaltenen Werks zu entfalten.
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass sich die prominenten Dirigenten rund um den Globus die Gelegenheit, ihr Publikum mit diesem prominenten Überraschungsrückkehrer zu überraschen, nicht entgehen lassen werden. Eine gute Aufführung dürfte eine knappe Viertelstunde dauern, und auf alle Fälle zeigt sich Strawinsky hier, wo der Anlass keinen Spielraum für Extravaganzen bot, einmal von einer anderen, grundsätzlich meditativeren Seite. Und nun ist die aus den Stimmen rekonstruierte Partitur bei Boosey & Hawkes in einem akribisch edierten Erstdruck erschienen und auch im Studienformat erhältlich.
Als der „Chant funèbre“ erstmals erklang, hatte die sogenannte „Orgelsymphonie“ von Camille Saint-Saëns, seine 3. Symphonie in c-moll op. 78 von 1886, längst ihren Siegeszug durch die Konzertsäle in aller Welt angetreten und galt neben der wenige Jahre später vollendeten Symphonie in d-Moll von César Franck als die bedeutendste französische Symphonie ihrer Zeit. Und auch wenn sie im Verlauf eines weiteren Jahrhunderts von der Franck’schen Symphonie in der Gunst des Publikums überflügelt wurde, so bleibt sie doch das repräsentativste Orchesterwerk von Saint-Saëns und zusammen mit dem unverwüstlich geistreichen „Karneval der Tiere“ (der gleichzeitig mit der Orgelsymphonie entstand), dem emsig kompakten 1. Cellokonzert und dem herrlichen „Introduction et Rondo capriccioso“ für Violine und Orchester seine populärste Schöpfung.
Daher lag es nahe, dass Herausgeber Michael Stegemann die Gesamtausgabe der Instrumentalwerke von Saint-Saëns bei Bärenreiter mit diesem kolossal klingenden symphonischen Tongemälde in vier Sätzen, die in zwei Großabschnitten zusammengefasst sind, eröffnet. Saint-Saëns hat sich selbst, wie dem umfangreich informierenden Vorwort Stegemanns zu entnehmen ist, als „Eklektiker“ bezeichnet, und in der Orgelsymphonie, die zum großen Orchester ein vierhändig zu spielendes Klavier und natürlich die Orgel hinzufügt, befand er sich auf der makellosen Höhe seiner Meisterschaft in formaler, satztechnischer und instrumentatorischer Hinsicht. Die zyklischen Bezüge entwickeln sich in organischer Weise und verleihen der Symphonie die Anmutung einer abstrakten Programmmusik. Die Neuausgabe listet im kritischen Bericht eine Vielzahl an Korrekturen auf, unter welchen die berichtigten falschen Tonhöhen und Tondauern besonders hervorstechen und viele dynamische Ausbesserungen vorgenommen wurden. Bedauerlich ist lediglich, dass in der praktischen Ausgabe dieser maßstabsetzenden Neuausgabe der Partitur die begleitenden Informationen fast komplett weggelassen wurden. Für wen, wenn nicht für die Dirigenten, wären diese von besonderem Interesse?
- Igor Stravinsky: Funeral Song op. 5 for Orchestra. Studienpartitur. Boosey & Hawkes HPS 1592, ISBN 978-1-784543-05-1
- Camille Saint-Saëns: Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (Œuvres instrumentales complètes I/3). Bärenreiter BA 10303-01, ISMN 979-0-006559-50-3; Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 78. Partitur. Bärenreiter BA 7896, ISMN 979-0-006563-33-3