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Lebende Musik, menschliche Kunst

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Orchesterwerke und Kammermusik in der Carl-Nielsen-Gesamtausgabe
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Zu einem gewissen Anteil tragen die Dänen selbst die Verantwortung dafür, dass Carl Nielsens internationaler Aufstieg auch im achten Jahrzehnt nach seinem Tode noch gehemmt verläuft. Während der Schutzfrist seiner Werke blieben stets Fragezeichen bezüglich authentischer Quellen und Ausgaben. 2001 erloschen die Autorenrechte, und endlich hatte man sich dazu durchgerungen, im Wilhelm-Hansen-Verlag (in Deutschland über Sikorski vertrieben) eine ordentliche Gesamtausgabe zu veranstalten, aus der wir in früheren Beiträgen bereits die sechs Symphonien und die Oper Maskarade vorstellten.

Das Spektrum von Carl Nielsens Schaffen ist, sowohl was die bedienten Genres als auch was die stilistische Breite betrifft, sehr weit abgesteckt. Er war ein durch und durch dynamischer Charakter, der mit seinem Feuer und seiner Lebendigkeit seine ganze Umgebung entflammte. Dies ist auch ein Signum seiner Kompositionen. Immer mehr kam er dahin, dass seine Musik „sich aus sich selbst erschafft“, die Form „sich aus sich selbst gebiert“ und nicht vorgegebenen architektonischen Rahmenbedingungen gehorcht – dieser unumkehrbare Prozess der Transzendenz klassischer Ideale nahm in der 1910–11 geschriebenen Dritten Symphonie, der Sinfonia espansiva, erstmals im großen Format Gestalt an und hat bis zu dem letzten Großwerk, der einsätzigen Orgelsymphonie Commotio aus seinem Todesjahr 1931, in stets unvorhersagbarer Weise angehalten.

An jüngeren Bänden der Gesamtausgabe seien hier zwei Volumen mit den kleineren Orchesterwerken, die Kammermusiken für Streicher respektive in anderen Besetzungen (auch in zwei Volumen unterteilt) und die Klavier- und Orgelmusik vorgestellt. Nicht enthalten sind die Frühwerke, die gesondert herausgegeben werden (z.B. zwei Streichquartette, Klaviertrio, G-Dur-Violinsonate, Violinduo). Wie schon bisher, sind die sehr umfangreichen Vorworte (auch auf Deutsch) und kritischen Berichte in die Notenausgaben integriert. Ich gehe hier bewusst nicht auf editorische Detailfragen ein – die entsprechenden Informationen sind, nach einigen dahingehenden Versäumnissen in den ersten Symphonie-Ausgaben, in transparenter Weise aufbereitet und gewähren so Aufführenden und Wissenschaftlern relevante Entscheidungshilfen. Wichtig ist an dieser Stelle, auf die Werke als solche hinzuweisen.

Die vier Streichquartette sind als Zyklus relativ früh abgeschlossen (1887–88, 1890, 1897–98, 1906). Im letzten, dem F-Dur-Quartett op. 44, hatte Niel-sen eine vollendete Meisterung erreicht, die ihn mit der Gattung abschließen ließ. Aber auch die früheren Quartette sowie das Streichquintett von 1888 sind allesamt herrlich gestaltete Beiträge, die ihren Platz im Repertoire beanspruchen können und wunderbar als Brücke zwischen romantischer Tradition und klassischer Moderne dienen können. Viel zu unbekannt und bestens geeignet als ambitionierte Kontrapunkte zu Bachs Solowerken sind die beiden späten, recht umfangreichen und geigerisch so intrikaten wie dankbaren Kompositionen für Solovioline: Präludium und Thema mit Variationen (1923) und Preludio e Presto (1927–28), die Emil Telmányi einst hinreißend vortrug und die seither nur als Geheimtipp im Umlauf waren.

Werke allerersten Kalibers sind auch die beiden Sonaten für Violine und Klavier in A-Dur op. 9 (1895, mit brahms’scher Ausdruckstiefe und Substanz) und op. 35 (ein Werk von äußerster Dichte, Stringenz und Kraft, das im Gehalt jeder Beethoven-Sonate zur Seite gestellt werden kann) – beide Sonaten sind bis heute nicht ihrem Wert entsprechend bekannt.

Anders sieht es mit dem berühmten Bläserquintett von 1922 aus, dessen konzertant-symphonische Qualitäten und bahnbrechende Originalität seit jeher nicht in Frage standen. Ein humoristisches Intermezzo von schelmischer Kurzweil ist die Serenata in vano für Klarinette, Fagott, Horn, Cello und Kontrabass von 1914. Zwei wundervoll romantische Sätze umspannen die Fantasiestücke für Oboe und Klavier (ca. 1881), die sich vorzüglich mit Schumann kombinieren lassen. Dann sind da noch einige Petitessen wie Canto serioso für Horn und Klavier (1913), drei kleine Stücke für die dänische Zitherart Langeleik (1918) und ein Mini-Allegretto für zwei Blockflöten von 1931.

Nielsens Klaviermusik ist international bemerkenswert unbekannt geblieben. Dabei ist gerade hier viel zu entdecken für den, der an neuen Wegen in der klassischen Moderne interessiert ist. Die technisch anspruchsvolle Klaviermusik ist überwiegend in zwei Phasen entstanden: 1890–97 (darunter die Symphonische Suite op. 8) und 1916–20 (Chaconne op. 32, Thema mit Variationen op. 40, Suite op. 45) mit einem Nachzügler von 1928 (3 Stücke op. 59). Letztere Werke sind von ausgeprägtester, geradezu ungefälliger Eigenart und Modernität, und ihre angemessene Würdigung und Verbreitung ist überfällig. Ergänzt wird die Sammlung durch zwei Folgen Klaviermusik für Jung und Alt op. 53 (1930) und einige kleine Einzelstücke. Für die Orgel schrieb Nielsen erst am Ende seines Lebens auf der Grundlage des intensiven Studiums der Kontrapunktiker der Renaissance und des Barock, zunächst die 29 kleinen Präludien op. 51 (1929–30), dann sein erratisch-monumentales Vermächtnis Commotio – hier verband er die herbe Strenge der „altklassischen Polyphonie“ mit der organischen Triebkraft zeitgenössischer Motivik und Harmonik zu einer Eigenart, deren leidenschaftlicher Forschergeist an „den unerreichten“ (Nielsen) Johann Sebastian Bach anknüpft.

Außerhalb seiner Heimat ist Carl Nielsen vor allem als Orchesterkomponist bekannt, insbesondere durch seine Symphonien und vielleicht noch die Solokonzerte. Auch einige der kleineren Orchesterwerke sind hin und wieder zu hören. Am populärsten ist die rundum gelungene und bereits vollkommen persönliche Lille Suite (Kleine Suite) für Streicher op. 1, sein 1888 komponiertes Durchbruchswerk. Schon zuvor, 1887, hatte er die zwei Quartettsätze Andante tranquillo und Scherzo für Streichorchester bearbeitet.

Die Symphonische Rhapsodie von 1888 war als erster Satz einer Ersten Symphonie geplant, deren Rest nie vollendet wurde. 1903, nach der Zweiten Symphonie, schrieb er in Griechenland die klanglich rauschhafte, strahlende Helios-Ouvertüre, ein leicht zugängliches, prachtvolles Stück, das sich als Einleitung eines Symphoniekonzerts ebenso gut und doch so ganz anders macht als eine Mendelssohn- oder Weber-Ouvertüre. Die Ouvertüre Saga-drøm (Sagentraum) op. 39 (1907–08) mit ihrem Ausflug in wunderlich ornamentische, aleatorische Polyphonie fesselt mit einzigartig geheimnisvollem Zauber. Das dunkel glühende Andante lamentoso „An der Bahre eines jungen Künstlers“ von 1910 kann sowohl als Streichquintett als auch von einem Streichorchester dargeboten werden.

Zum Gedenken der Opfer des Titanic-Unglücks entstand 1912 die Paraphrase für Blasorchester über den Volkschoral „Näher, mein Gott, zu Dir“. Nielsens dezidierter Beitrag zum Impressionismus ist die Tondichtung Pan und Syrinx (1917–18). Es folgen zwei wenig bekannte Auftragswerke: die rhapsodische Ouvertüre Fantasiereise zu den Färöer-Inseln (1927), ein extrem kontrastreiches Naturstück mit Seesturm, das sich in seiner Zivilationsferne herrlich mit Sibelius’ Tapiola verbinden lässt, und die eigentümliche Streichorchester-Paraphrase Böhmisch-dänische Volksweise (1928). Es bleibt viel zu entdecken in Sachen Carl Nielsen.

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