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Leidenschaft versus Verinnerlichung

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Neu in historisch-kritischer Ausgabe: Richard Strauss’ „Elektra“ und Jean Sibelius’ vierte Symphonie
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Die Kritische Ausgabe von Werken Richard Strauss’ schreitet in einem Tempo voran, das solch ambitionierten, hochkomplexen, von Detailproblemen und kleinen bis kleinsten zu beseitigenden Flüchtigkeitsfehlern wimmelnden Aufgaben natürlicherweise gesetzt ist.

Die drei frühesten Tondichtungen (das mehrsätzige „Aus Italien“, die – auf einander gegenüberliegenden Seiten zum direkten Vergleich anregenden – zwei Fassungen des „Macbeth“, und „Don Juan“) sind bereits erschienen, „Tod und Verklärung“ wird bald erwartet. Auch drei Bände der Klavierlieder, die Werke für Streichinstrument und Klavier und die von Strauss autorisierten Originalfassungen der „Salome“ (deutsche vs. französische Fassung sowie die „Dresdner Retuschen“, in 2 Bänden) liegen ebenfalls vor. Und hier liegt nun die „Elektra“ op. 58, 1906–08 entstanden als wohl gewaltigster Einakter der Operngeschichte vor mir (Schott Music RSW 104). In diesem wie ein moderner Film in Richtung Echtzeit-Vergegenwärtigung drängenden, hypnotischen Anfang-bis-Ende-Hochspannungsdrama schießt Strauss sozusagen noch über die „Salome“ hinaus, die er zwar nicht übertrifft, jedoch fraglos überbietet. Es ist der Gipfelpunkt der dissonant ekstatischen Modernität in seinem Œuvre, und danach scheint ihm nur noch das besänftigende Hinübergleiten in bourgeoisere, gemütlich aufgeräumtere Klangräume zur Disposition gestanden zu haben („Rosenkavalier“, „Ariadne auf Naxos“ in erster Fassung und „Frau ohne Schatten“ – also die drei nächsten Opern – sind in der Werkausgabe bereits angekündigt).

Anders als bei der „Salome“ ist die „Elektra“ – abgesehen von der pragmatisch erledigten Aufgabe einer Ausgabe in verringerter Besetzung – in der Folge keinen nennenswerten Veränderungen unterworfen worden, die Quellenlage also weit eingeschränkter. Und wie bei der „Salome“ hat Strauss die Drucklegung eifersüchtig überwacht, die Zahl der kleinen Fehlerchen ist zwar (siehe die 45-seitige Auflistung der „editorischen Eingriffe“) Legion, doch gravierende, deutlich vernehmbare Fehler sind kaum darunter. Aber natürlich, der von Alexander Erhard unter Mitwirkung von Sebastian Bolz und Adrian Kech herausgegebene und mit einer umfassend informierenden Einführung von Kech versehene Band bildet den neuen ‚State of the Art‘, das heißt, wer sich künftig das Material dieses Werkes anschafft, greift zu dieser kritisch durchgesäuberten Ausgabe.

Dass die Gesamtedition von Prof. Hartmut Schick als Ordinarius des Musikwissenschaftlichen Instituts der Münchner LMU geleitet wird, ist mehr als Ehrensache, war doch der hochverdiente, jüngst verstorbene Strauss-Exe­get Reinhold Schlötterer (1925–2021) lange als legendäre Lehrkraft dieser Ausbildungsstätte verbunden. Auch ein paar sehr eindrückliche Faksimiles enthält der „Elektra“-Band, und diese Musik, die wahrscheinlich keiner so fesselnd darzubieten verstand wie Dimitri Mitropoulos, bildete die Speerspitze des musikalischen Sensationalismus, bis Werke wie Strawinskys „Sacre du printemps“, Bartóks „Wunderbarer Mandarin“, Prokofieffs „Skythische Suite“ oder Varèses „Arcana“ ihre prächtigen Giftpfeile, auch dank einer noch dominanter heraustretenden rhythmischen Ekstase, noch weiter schossen.

Derweil bewegte sich Jean Sibelius, wenigstens rein äußerlich betrachtet, in genau die entgegengesetzte Richtung. Seine Vierte Symphonie in a-Moll op. 63 stellte er 1909–11 fertig, und man könnte sie als eine Reaktion auf die schrille, hysterische Welt der „Elektra“ verstehen – zumindest war sie ganz gewiss Sibelius’ Reaktion auf jene hypertrophe Veräußerlichung der orchestralen Kunst, wie sie vor allem von den großen deutschsprachigen Kapellmeisterkomponisten wie Strauss, Mahler, Reznicek oder Hausegger vorangetrieben worden war, aber auch – in nicht geringerem Maße – auf den musikalischen Akademismus im Allgemeinen, also auf die Formelhaftigkeit im Prunkgewand, wie sie nicht nur die Berliner Akademiker gepflegt hatten und bis zum Epochenbruch des I. Weltkriegs auch weiterhin ungehindert ihre Vormachtstellung damit behaupten konnten.

Sibelius’ Vierte lässt nicht nur alles Überflüssige beiseite (was man bald darauf, in ganz anderer Weise, auch von Werken Maurice Ravels wie etwa der „Rapsodie espagnole“ oder „Ma mère l’oye“ mit gleichem Recht sagen konnte: nicht eine Note zu viel und auch keine neue Note zu früh…), sie wendet sich zugleich komplett ab vom äußeren Rausch, vom Beeindruckenmüssen, von der Nutzung des Instrumentalapparats zur Erzeugung von Effekten als Selbstzweck. Nun ist die Vierte endlich in der bei Breitkopf & Härtel erscheinenden Sibelius-Gesamtausgabe aufgelegt worden (Partitur, SON 635), und sie ist unentbehrlich, da sie: 1. die vom Originalverlag nach dem Erstdruck von 1912 in den Aufführungsmaterialien nicht korrigierten Fehler beseitigt und weitere aufdeckt und behebt, und 2. im Anhang die kürzeren Urfassungen der beiden Mittelsätze und die ursprünglichen, abweichenden Versionen von fünf Passagen des Finales erstmals im Druck zugänglich präsentiert. Das ist der wichtigste Beitrag zur Sibelius-Erschließung seit dem Erstdruck der symphonischen Dichtung „Skogsrået“ (Die Waldnymphe) und der hochvirtuosen Erstfassung des Violinkonzerts, die gleichfalls die Gesamtausgabe geleistet hat. Nun warten wir vor allem noch auf die Fünfte Symphonie und den damit verbundenen Erstdruck der vom späteren ersten Satz gravierend abweichenden, in zwei getrennte Sätze geteilten Urfassung.

Sibelius’ Vierte Symphonie ist in ihrer maximalen Verinnerlichung ein Werk von epochenüberschreitender Symbolwirkung. Sie wurde stets als seine modernste Symphonie angesehen – eine Stellung, die die Vierte mit der Fünften teilt, doch beginnt die Fünfte milder, und wir wissen, dass nichts so einschneidend wahrgenommen wird wie der Beginn eines Werkes. Während Strauss damit beschäftigt war, allen Zunftgenossen zu beweisen, dass kein anderer mit seiner überquellenden Begabung und mühelosen Virtuosität, mit seinem unaufhaltsamen Schwung mithalten konnte, war für Sibelius die Symphonie „keine ‚Komposition‘ im traditionellen Sinn. Es ist vielmehr ein Glaubensbekenntnis in verschiedenen Stadien des Lebens.“ Entsprechend hat er Anfang 1912 „mit der Symphonie ums Überleben gekämpft“, und bilanzierte nach der 3. Aufführung: „Mit meiner Vierten, denke ich, stehe ich bestimmt allein. Dennoch – lieber das als Kompromisse.“ Über die großenteils verständnislosen Kritiken bemerkte er: „Den Herren ist eine verfeinerte Kunst schwach. Es ist wie ich immer gesagt habe: die glauben, forte ist Kraft, Roheit, Originalität u.s.w. Es ist zum lachen!“ (Zitate aus dem exzellent und umfassend informierenden Vorwort von Herausgeberin Tuijy Wicklund).

Es gibt zwischen Debussys Entwicklung und Strawinskys Durchbruch kein originelleres, zutiefst kühneres und unorthodoxeres Orchesterwerk als diese Vierte Symphonie, doch vor allem im deutschsprachigen Raum hat es ein Jahrhundert gedauert, bis die Vorurteile gegen ihren Komponisten im allgemeinen überwunden wurden und sich nun, von ein paar unverbesserlichen Idioten abgesehen, selbst die Fachwelt der Lächerlichkeit preisgibt, wenn sie sich weiterhin taub stellt. Dieser Musik gehört auch in Deutschland wenigstens ebenso die Zukunft wie dem katastrophischen Taumel der überschießenden Leidenschaften in Strauss’ „Elektra“.

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