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LLustspiel, Glücksspiel, Siegeszug

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Die Oper „Maskarade“ in der Carl-Nielsen-Gesamtausgabe
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Wie stellt ein Komponist es an, wenn er seine neue Oper zur Begutachtung in der nächsten Spielzeit fristgerecht einreichen möchte, jedoch mit dem Werk nicht rechtzeitig fertig wird? Carl Nielsen (1865–1931), Dänemarks überragender Tonschöpfer und, war die Inspiration erst mal in Gang, eigentlich ein zügiger Schreiber, ließ sich eine geschichtsreife Zirkusnummer einfallen, die in ihrer Pfiffigkeit ebenso Handlungsbestandteil der betreffenden Oper, der ‘Maskarade’ nach Ludvig Holberg (1684–1754), hätte sein können.

Wie stellt ein Komponist es an, wenn er seine neue Oper zur Begutachtung in der nächsten Spielzeit fristgerecht einreichen möchte, jedoch mit dem Werk nicht rechtzeitig fertig wird? Carl Nielsen (1865–1931), Dänemarks überragender Tonschöpfer und, war die Inspiration erst mal in Gang, eigentlich ein zügiger Schreiber, ließ sich eine geschichtsreife Zirkusnummer einfallen, die in ihrer Pfiffigkeit ebenso Handlungsbestandteil der betreffenden Oper, der ‘Maskarade’ nach Ludvig Holberg (1684–1754), hätte sein können.I ndem er davon ausging, dass der musikalisch für die Annahme verantwortliche Kapellmeister am Königlichen Theater in Kopenhagen, der ihm wohlgesonnene und auch als Komponist berühmte Johan Severin Svendsen, sich nicht die Zeit nehmen würde, die Partitur durchgehend genau zu studieren, schrieb er mitten in den dritten Akt einen Vorabschluss, bestehend aus einigen konventionell donnernden Tuttiakkorden und dem obligatorischen doppelten Taktstrich. Der amüsante Coup funktionierte, die Oper wurde akzeptiert, und Nielsen hatte noch genug Zeit, den Rest planmäßig zu Papier zu bringen.

Nun ist im Rahmen der schnell voranschreitenden Carl-Nielsen-Gesamtausgabe fast ein Jahrhundert nach der Entstehung erstmals die Partitur von „Maskarade“ im Druck erschienen – eine Sache, die Nielsen eigentlich Zeit seines Lebens zu Recht von seinem Verleger Hansen erwartete. Dass es so lange gedauert hat, ist in der Tat schwer zu verstehen, setzte sich die „Maskarade“ doch schnell und nachhaltig als die repertoirefähigste dänische Oper durch, und heute besteht kein Zweifel, dass sie das bedeutendste Musiktheaterwerk ist, welches das kleine Land hervorgebracht hat, ja sogar – nicht zuletzt, da Sibelius diese Gattung nicht bedient hat – die herausragende skandinavische Oper der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lediglich eine Taschenpartitur des ersten Akts als Manuskriptkopie war bislang käuflich erhältlich.

Carl Nielsen komponierte „Maskarade“, seine zweite Oper nach dem biblisch-oratorischen „Saul und David“, 1905 auf ein noch heute umstrittenes, gleichwohl theaterwirksames Libretto von Vilhelm Andersen nach Holbergs Lustspiel. Die umjubelte Uraufführung fand am 11. November 1906 unter seiner Leitung statt. Es geht um die bevorstehende Zwangsverheiratung von Leander mit der ihm unbekannten Leonora. Als er sich auf dem Maskenball (= Maskarade) im gegenüber liegenden, „verruchten“ Hause verliebt, rebelliert er und besucht trotz des Verbots durch seinen Vater Jeronimus zusammen mit dem trickreich loyalen Henrik auch die Maskarade in der daraufolgenden Nacht. Dort sind sie nun alle, getrieben von verschiedensten Motiven: die jungen Damen und Herren, Leanders aufgebrachter Papa und seine in Tanzwallung befindliche Mama, die sich ausgerechnet in den designierten Schwiegervater verguckt. Diese pittoreske Szenerie ist außerordentlich kaleidoskopisch geraten, was Nielsen ob der vermeintlichen Unübersichtlichkeit bis zum Ende seines Lebens an der Qualität des Ganzen zweifeln und Umarbeitungspläne bis hin zur Zusammenziehung der letzten zwei Akte zu einem einzigen (zumal der intermezzohafte zweite Akt immer als etwas schwächer galt) in seinem Kopf Gestalt annehmen ließ (zur Realisierung solch gravierender Änderungen kam er nicht mehr). Der bunte Reigen wird schlagartig beendet durch den Auftritt von Corporal Mors, der das paarweise Abwerfen der Masken anordnet. Und siehe, Leanders Auserwählte ist identisch mit der zwischen den Eltern ausgeschacherten Braut. Da kann auch der schwerenöterische Vatertyrann keins mehr obendrauf setzen.

Das Gesamtausgabe-Unterfangen stieß im Fall der „Maskarade“ auf einen Berg von Schwierigkeiten, hatte doch Nielsen im Laufe der Aufführungs- und Akquisitionsgeschichte der nächsten 25 Jahre eine Menge Änderungen und Kürzungen verfügt, die in zahlreichen, einander teilweise widersprechenden, oft ungenauen und fehlerhaften Quellen vorliegen. Das sehr informative Vorwort vermerkt zudem unter der Rubrik „Redaktionelles Vorgehen“, dass die Oper „innerhalb sehr kurzer Zeit und unter großem Zeitdruck“ entstanden ist, „was einen Arbeitsablauf nach sich zog, der einem Glücksspiel gleichkam“. Die Relevanz und Verlässlichkeit der einzelnen Quellen (16 Partituren, Skizzen, Klavierauszüge und Stimmensätze für die Oper und 8 weitere Quellen zur vielgespielten Ouvertüre, für die Nielsen einen separaten Konzertschluss komponierte) wird von den fünf Herausgebern transparent diskutiert. Die unter Nielsens Observation von C. Rocholl in Bonn gelieferte deutsche Übersetzung des Librettos ist auch dieser Neuausgabe zugrunde gelegt, wobei manche stilistischen und sinngemäßen Verbesserungen vorgenommen wurden. Als unverständlich und vermeidbar zu beanstanden ist, dass die abschließende Korrekturlesung sämtlicher deutschen Texte (Libretto und Vorwort) nicht von einer Person vorgenommen wurde, die wirklich der deutschen Sprache mächtig ist. Davon zeugen viele dumme Fehlerchen.

Die Partitur des abendfüllenden Dreiakters ist in drei umfangreiche Bände gegliedert, die in den Kopplungen dänisch-deutsch und dänisch-englisch erhältlich sind. Ebenso gibt es die entsprechenden Klavierauszüge. Für die Lektüre des Kritischen Berichts, veröffentlicht in einem gesonderten Band, sind Englischkenntnisse Voraussetzung. Dieser enthält überdies ein Verzeichnis sämtlicher eruierbarer Kürzungen und Umstellungen, die von Nielsen autorisiert sind, dankenswerterweise auch in sehr übersichtlicher grafischer Darstellung. Die Herausgeber haben den Notentext in voller Länge zugänglich gemacht, unter Einschluss von Nielsens eindeutig verworfener Teile, was schon deshalb vollkommen berechtigt ist, weil die „Maskarade“ nie ganz dem Stadium des Work-in-progress entwuchs. So kann nun jeder Dirigent nachvollziehen, wo Nielsen selbst mit dem Stoff kämpfte und wie bestimmte Veränderungen motiviert gewesen sein könnten. Man darf geradezu den Geruch der Schwierigkeiten inhalieren, von denen man allerdings beim Hören der Musik nichts spüren wird. So viel Mozart’sche und Rossini-hafte Leichtig- und Wendigkeit, so viel sprühender Witz, solche buffoneske Kapriziosität in einem nordischen Werk – das blieb unübertroffen, auch wenn es im Norden manches Echo hatte, am offensichtlichsten beim Schweden Hugo Alfvén. 1907, in seinem Todesjahr, wohnte Edvard Grieg einer Aufführung der „Maskarade“ bei. Er schrieb an Nielsen: „Was das Ganze anbelangt, so bin ich nicht darüber im Zweifel, dass dies ein Werk eines neuen Meisters ist, der spricht: ‚Hier bin ich!’ Welch feine humoristische Kunst und welche (...) Konomie in technischer Hinsicht!“

Allmählich tritt die „Maskarade“ ihren lange hinausgezögerten Siegeszug um die Welt an (endlich liegt auch eine Einspielung mit internationalen Kräften bei Decca vor), und dabei kommt dieser gründlichen, fundierten Ausgabe entscheidende Bedeutung für die weiteren Geschicke zu – wie überhaupt die Resonanz auf das Werk Carl Nielsens durch die bei Wilhelm Hansen erscheinende (in Deutschland von Sikorski vertriebene) Gesamtausgabe künftig weit grösser und damit seinem Genius angemessener werden wird (demnächst folgt an dieser Stelle eine Besprechung der GA seiner sechs Symphonien).

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