In dem weit gespannten Werkkatalog des Kölner Musikverlegers Christoph Dohr hat vierhändige Klaviermusik einen beachtlichen Stellenwert. Neben der lobenswerten Präsentation von Werken zeitgenössischer, oft nur regional bekannter Komponisten, findet manch halb oder ganz vergessener Musiker aus weiter zurückliegender Zeit Berücksichtigung. Die Wiederentdeckungen lohnen sich! Frauke Uerlichs konnte an dieser Stelle im vergangenen Jahr drei Ausgaben vierhändiger Klavierstücke von Friedrich Kiel (1821–1885) empfehlen: Zwei kleine Sonaten op. 6, Leichte Klavierstücke op. 13 und Ländler op. 66. Drei Werke sind es im Folgenden auch von einem aus Thüringen stammenden, später in Gießen und Darmstadt vor allem als Organist wirkenden Musiker.
Johann Christian Heinrich Rinck (1770–1846): Trois Divertissements op. 36 (für Klavier vierhändig), Edition Dohr 27548
Douze Menuets et Trios op. 79 (für Klavier vierhändig), Edition Dohr 24163
Variationen für das Piano-Forte zu vier Händen op. 102, Edition Dohr 24162
Der Verleger, der sich zugleich als Herausgeber artikuliert, hält sich in der Qualitätsbeschreibung bescheiden zurück. In jeder der drei Ausgaben betont er im Vorwort, dass Rincks „Kompositionstätigkeit ... den Ton des Biedermeiers treffend der selbstzufriedenen musikalischen Unterhaltung daheim Futter lieferte“. Das dürfte sowohl Rincks kompositorischer Leistung (ohne sie besonders hochstilisieren zu wollen) als auch der Bewertung dazu im gesellschaftlichen Umfeld nicht gerecht werden.
Die Menuette mit Trios präsentieren sich in traditionsgewohnter einfacher Liedform, die immer wieder souverän und einfallsreich ausgelotet wird, auch in den Divertissements. In den Variationen, die mehr oder weniger dem klassischen Melodievariationstypus folgen, sind die Vorgaben natürlich durch die Themen geprägt, ob auf eine eingängige Melodie von Rossini oder ein Volkslied bezogen. Doch auch hier darf man sich gelegentlich durch eine aparte harmonische Wendung überraschen lassen. Der Klavierklang in den Divertissements gewinnt manchmal orchestrale Züge. Der Klaviersatz von seiner Anlage her ist partnerfreundlich einzustufen. Der Schwierigkeitsgrad bei Primo erreicht in einem der Variationswerke bei einer entsprechenden Temponahme vielleicht schon die Schwelle zu „schwierig“, im Übrigen ist für Primo und Secondo überall „leicht“ bis „mittelschwer“ anzusetzen. Benutzer der Notenausgaben sind gelegentlich Druckfehlern ausgeliefert trotz der sonst erkennbaren Sorgfalt des Herausgebers. Fingersätze werden nicht angeboten. Auf den Gesamteindruck bezogen bedeutet das Angebot eine Bereicherung.
Jean-Louis Petit (*1937): Traces II pour piano à 6 mains, Edition Dohr 27454
Mehr noch als bei der vierhändigen bedarf es bei sechshändiger Klaviermusik kluger Anstöße von Komponisten, um dieses Genre aus dem Schatten mehr unterhaltsamer Art oder einer möglichen Eingrenzung nur pädagogisch ausgerichteter Zielrichtung heraustreten zu lassen. Jean-Louis Petit lässt mit seinen ,,Traces II“ aufhorchen. Voraussetzung dürfte freilich sein, offene Ohren zu haben für den Charme der französischen Klangwelt des Impressionismus und Postimpressionismus. Petit bezieht sich mit eigenen Worten bei seiner Arbeitsweise auf die Vorbilder Olivier Messiaen (,,Modes mé1odiques“) und Arnold Schönberg (12-Tonreihen). Sowohl eigenständig mit kurzen Soli in engvernetzten Dialogeinheiten oder gar bewusst im Auseinanderdriften (letzter Teil!), als auch gemeinsam – acht Takte lang sind fünf Hände der Spieler in schneller Abfolge der Noten unisono, also messerscharf, in komplexe Figurenkaskaden eingebunden! – werden die drei Spieler in gleicher Gewichtung und hochdiszipliniertem Zusammenwirken gefordert. Die Präsentation des Werkes in der Ausgabe bei Dohr lässt einiges im Unklaren: Die Überschrift ,,IV. Déconstruction“ (S. 47) müsste folgerichtig bedeuten, dass es zuvor die Teile (Sätze?) I bis III gibt. So bezeichnete Abschnitte sind aber nicht vorhanden.