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Neue Noten 2022/04 – Sehr viel sehr schweres

Untertitel
Neue Noten von Robin De Raaff, Andrea Portera, Dieter Mack, Steven Daverson und Minas Borboudakis
Publikationsdatum
Body

Minas Borboudakis (*1974): dead strokes (2006/11) +++ Steven Daverson (*1985): Exotic Vapour (An Homage?) (2008) für Klavier +++ Dieter Mack (*1954): Studie II (1981) für Klavier +++ Andrea Portera (1973): ...il lato sinistro delle macchie di Rorschach... (2018) für Klavier linke Hand +++ Robin De Raaff (*1968): Sonate Nr. 2 „North Atlantic Light“ (2017/8) für Violine und Klavier

Minas Borboudakis (*1974): dead strokes (2006/11) für Marimbaphon solo (mit Crotales, Monochord) und vier Schlagzeuger (2 teils mit Bögen gestrichene Vibraphone, Holzstöcke, Metallinstrumente, Pauken)
Edition Peters Leipzig EP 12618 (Partitur)

Stilrichtung, allg. Charakter
Klanglich opulenter, harmonisch reibungsvoller Stil. Verfeinerte Musikantik im Wechsel zwischen Bewegungsrausch (oft mit Perpetuum-mobile-Charakter) und Phasen versonnener Klangexerzitien.
Dominante Holz-, dazu akzentuierende Metall- und Fellklänge in immer fein dosierten Resonanzen.

Form, Struktur
Einsätzer, dessen Verdichtungsprozesse, kontrastive Wechselspiele, aktive oder kontemplative Episoden samt auspendelndem Epilog eine mehrfach an- und abschwellende Spannungskurve voller elementarer (Kaskaden, Mäander, Repetitives), oft auch imitatorischer Bewegungstypen ergeben.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Traditionelle Partitur (wechselnde Kombinationen von Tonhöhen- und reiner Rhythmusnotation)
Dauer: ca. 14 min.
sehr schwer

Kommentar
Äußerst gelungene Dramaturgie der Klangfarben und Spielweisen, darunter „Dead strokes“ – das Abdämpfen des Instruments zur Unterdrückung weiterer Resonanzen. Die finsteren Assoziationen des Titels werden durch Klangsinnlichkeit und Spielfreude dieser Musik schnell beiseite gewischt.


Steven Daverson (*1985): Exotic Vapour (An Homage?) (2008) für Klavier (mit Tonhaltepedal)
Edition Gravis Neuss, eg 2737 (Spielpartitur)

Stilrichtung, allg. Charakter
Neo-Impressionismus mit Zügen der New Complexity. Starres Tonhöhenraster und Flüchtigkeit des angeschlagenen Klaviertons werden durch vielschichtig auskomponierte Rubati, rasendes Laufwerk und mittels Tonhaltepedal erzielte akustische Haloeffekte gleichsam verflüssigt und transzendiert.

Form, Struktur
Einsätzige Bogenform, die sich von insulären, rhythmisch irregulär ausfransenden Akkordbildungen wechselnder Harmonik (dorthin am Ende auch zurückkehrend) zu zeitlich und tonräumlich immer expansiveren, ereignisdichteren Impulsfeldern voller floral anmutender Figurationen aufschwingt.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Herkömmliche Notation
Dauer: ca. 3,5 min.
sehr schwer

Kommentar
Diese „Adagio fluido e delicato“ überschriebene, atmosphärisch dichte, dabei dynamisch dezente Miniatur verfolgt die aparte Idee einer synästhetischen Annäherung an die u.a. durch Shakespeare überlieferte betörende Wirkung eines Parfums, dessen Rezeptur angeblich Cleopatras eigene war.


Dieter Mack (*1954): Studie II (1981) für Klavier
Verlag Neue Musik Berlin NM 2544 (Spielpartitur)

Stilrichtung, allg. Charakter
Pianist*innen gleichermaßen zu aufmerksamem Spiel und Lauschen anregende, zuweilen polytonal anmutende Harmonik-Studie, deren kontemplative, non-expressive Grundhaltung durch unerwartete Zäsuren, Dynamik-, Tempo-, Rhythmus- und Registerwechsel immer wieder hintertrieben wird.

Form, Struktur
Einsätzige Form, bei der auf konsequent homophone Weise Moll-, Dur- und diverse Quartakkorde miteinander oder auch mit leeren Terz- oder Quintklängen kombiniert werden, wobei die Harmonik sich zwischen Repetition, Kreisbewegung und Veränderung in stark schwankenden Tempi entfaltet.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Weitgehend traditionelle Notation in Großtakten (dabei nur Takt 1 variabel auszuführen)
Dauer: ca. 11 min.
mittelschwer

Kommentar
Im Rahmen der Mack gewidmeten Gesamtedition erscheint erstmals auch dieses frühe Werk, dessen Aufführung – so der Komponist – „sich nur bei passenden (meditativen) Umständen und Räumen“ anbietet. Für die nahezu erotische Annäherung an das Klangpotenzial des Klaviers bestens geeignet.


Andrea Portera (1973): ...il lato sinistro delle macchie di Rorschach... (2018) für Klavier linke Hand (und zu blasendes Wellrohr)
Edition Impronta Mannheim IE-ANP-2-2019 (Spielpartitur; Wellrohr auf Anfrage)

Stilrichtung, allg. Charakter
Fantastischer Stil mit einer Fülle bizarrer Gestaltungsdetails: präzise choreographiertes Spiel der Finger, modal oder tonal anmutendes Melos, diverse Resonanz- und Filtereffekte, phasenweise hinzutretende vokal-instrumentale Aktionen in italienischer, englischer oder Phantasiesprache usw.

Form, Struktur
Einsätzige Form aus zehn attacca zu spielenden Teilen („Kleckse 1–10“) mit wechselnden Texturen, darunter Monodien mit Begleitung und polyphone Geflechte bis hin zu vierstimmigen Fugati. Die Kleckse 4 und 7 erfahren variierte Reprisen, charakteristisches Melos schafft übergreifende Bezüge.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Notation auf je einem System für Daumen, restliche Finger und Vokalaktionen mit Wellrohr
Dauer: ca. 10 min.
sehr schwer

Kommentar
So umstritten der Rorschachtest in der Welt der Psychologie ist, so anregend fand Porta offenkundig die Deutungsversuche wilder Tintenkleckse. Gewitzt schuf er mit diesem herrlich skurrilen, pianistisch originellen Stück ein musikalisches Pendant – zur Befeuerung der Fantastereien seiner Zuhörer.


Robin De Raaff (*1968): Sonate Nr. 2 „North Atlantic Light“ (2017/8) für Violine und Klavier
Deuss Music Den Haag, ohne Ed.nr. (Spielpartitur), zu bestellen über Deussmusic.com

Stilrichtung, allg. Charakter
Konzertant-rhapsodischer Stil atonaler Écriture mit impressionistischem, romantischem Einschlag. Rubatoreiche Gestaltung eines klanglich opulenten, meist eng verwobenen Diskurses bei großer Artikulationsvielfalt – ohne Tabus traditioneller Spielgesten (Oktavgänge, Arpeggien, Portamenti).

Form, Struktur
Dreiteilige Bogenform ohne merkliche Übergänge, bestehend aus Introduktion, Toccata und Coda, die alle wiederum sehr kleinteilig strukturiert sind. Eine Vielfalt von Texturen meist raumgreifenden Charakters verbindet sich mit eher locker gespannten Netzen motivischer oder gestischer Bezüge.

Notation, Dauer, Schwierigkeit
Traditionelle Partiturnotation (Klavier meist auf drei Systemen)
Dauer: ca. 18 min.
sehr schwer

Kommentar
Die taghelle Weite des Himmels, die Naturgewalten des Ozeans scheinen hier Pate zu stehen: Das stete Ausloten ätherischer Höhen, auf- und abwogende Figurationen und eine gewaltige Klimax zeitigen eine Expressivität, die wenig mit den täglichen Händeln menschlichen Daseins verbindet.
 

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