Klaus-Peter Werani: ouvrir, fermer. die feinen unterschiede (2021) für Bandoneon und Streichquintett (1.1.1.1.1.) +++ Nicolaus A. Huber: ALGOL. Nachspiel zu AION (2019) für Klavier, Luftzeichnung und Maultrommel +++ Albert Breier: Stiller Dienst (2009-2013) für Orgel +++ Nikolaus Brass: lines (2013/rev. 2019) für Gitarre +++ Pierre Boulez: Troisième Sonate: Formant 1 – Antiphonie (1955-63) für Klavier
Pierre Boulez (1925-2016): Troisième Sonate: Formant 1 – Antiphonie (1955-63) für Klavier
Universal Edition Wien UE 33943 (vier Teil-Partituren, gebunden bzw. als Schiebeblatt, 40-seitige Broschüre in dt., engl., frz. Sprache zur Werkgeschichte und Ausführung)
Stilrichtung, allg. Charakter
Strukturalistischer Maximalismus am Kipppunkt vom Serialismus zur Aleatorik mit hohem Bedarf klanglicher, rhythmischer Differenzierung. Expansiv-labyrinthischer Erschließung des Tonraums (Sigle, Antiphonie) steht mittig murmelnder Gestus samt mehrfachem Innehalten (Trait) gegenüber.
Form, Struktur
Die hier erstveröffentlichten fünf Fragmente (Antiphonie I & II, Sigle I & II, Trait initial) des ersten neben je zwei vollendeten und geplanten Teilen („Formanten“) der Sonate sind als weitere variabel anzuordnende, in Textur und Charakter je autonome Abschnitte bzw. Variantenpools zu begreifen.
Notation, Dauer, Schwierigkeit
Herkömmliche Tonhöhennotation bei wechselnder metrischer Strenge (reguläre, angedeutete oder fehlende Taktstriche), Anweisungen zu möglichen Montageverfahren
Dauer: ca. 12 min.
sehr schwer
Kommentar
Es gibt in der Geschichte nur wenige Werkfragmente, die ein solches Maß interpretatorischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit erlangt haben. Warum? An seiner „Grenze des Fruchtlands“ (Boulez nach Klee) war ihm der Durchbruch zu ästhetisch faszinierenden Klangwelten gelungen.
Nikolaus Brass (*1949): lines (2013/rev. 2019) für Gitarre (Contemporary Music for Guitar Collection Reinbert Evers)
Verlag Neue Musik Berlin NM 2957 (je eine Partitur gebunden und im Schiebeblatt-Format)
Stilrichtung, allg. Charakter
Expressiv motivierte Auslotung gitarristischer Artikulationsmöglichkeiten. Die Grundhaltung zarten Flageolettspiels durchziehen Auftritte immer neuen klanglichen Vokabulars (Glissandi, Perkussives, Vibrati bis hin zu robuster Toccaten-Gestik), die dann als vereinzelte Reminiszenzen haften bleiben.
Form, Struktur
Einsätzige Form, dessen rhapsodischer Verlauf sich einer Art Stream-of-Consciousness-Technik zu verdanken scheint, wobei das Bewusstsein bei aller Beweglichkeit auf bestimmte Wesenskerne expressiver und klanglicher Art (z.B. Flageolett-Melos, Quart- oder Terzharmonik) fokussiert bleibt.
Notation, Dauer, Schwierigkeit
Herkömmliche Partitur mit einigen grafischen Elementen, Sonderzeichen und phasenweisem Hang zu taktfreier Notation
Dauer: ca. 11 min.
schwer
Kommentar
Mit all den Transformationen des Gedächtnisses durch neue oder neu hereinbrechende Erfahrungen musikalisch nachgezeichnete Lebenslinien für ein Instrument, dessen exzeptionelles Potenzial des Spiels mit verschiedenen Graden der Körperlichkeit von Klang auf markante Weise freigelegt wird.
Albert Breier (*1961): Stiller Dienst (2009-2013) für Orgel
ARE Verlag Köln 2387 (Partitur)
Stilrichtung, allg. Charakter
Liturgisch inspirierter, Zeit- und Tonräume in großer formgestalterischer Freiheit durchwandernder, kontemplativer Stil. Einem harmonisch, farblich, dynamisch vielfältig changierenden Klangstrom entwachsen vereinzelt melodische, polyphone Facetten oder textural pointiertere Cadenza-Passagen.
Form, Struktur
Einsätzige Form mit einer Vielzahl wechselnder Texturen meist ohne erkennbare Bezüge bei stets schwankenden Dichte- und Intensitätsgraden. Charakteristisch für den hoch elaborierten Satz sind v.a. akkordische Additions- und Filtervorgänge, dazu subtil registrierte Farb- und Echowirkungen.
Notation, Dauer, Schwierigkeit
traditionelle Orgelnotation
Dauer: ca. 60 min.
sehr schwer
Kommentar
Die Kirchen leeren sich und schaffen damit ein Vakuum, das Breier offenkundig mächtig anzieht. In Anlehnung an den Ritus der „Stillen Messe“ vermag er den Sakralraum mit mystischen Tönen neu zu beleben – „zur Einstimmung des Geistes auf eine dienende Haltung gegenüber dem Göttlichen“.
Nicolaus A. Huber (*1939): ALGOL. Nachspiel zu AION (2019) für Klavier, Luftzeichnung und Maultrommel
Edition Breitkopf & Härtel Wiesbaden EB 9486 (Partitur, Faksimile)
Stilrichtung, allg. Charakter
Musik des magischen Realismus, deren rätselhafter Verlauf und klanglicher Reichtum sich aus dem eng verwobenen Spiel am und im Flügel speist. Das feinsinnige Mit- und Nacheinander zahlloser Tonproduktionsweisen fordert vom Spieler/zeitigt beim Zuhörer akute Aufmerksamkeit für Details.
Form, Struktur
Nach Art der Traumlogik aus immer neuen Klangkonstellationen und durch dezente Querbezüge (etwa bei Akkordstrukturen) locker gefügte Form. Das binäre Pendeln zwischen Tempoebenen bzw. Texturtypen öffnet sich zum Ende hin eklatanten visuellen oder instrumental-vokalen Irritationen.
Notation, Dauer, Schwierigkeit
Um viele Sonderzeichen und zusätzliche Systeme für das Spiel im Innenraum erweiterte Notation
Dauer: ca. 15 min.
sehr schwer
Kommentar
Diese inner- wie außermusikalische Ideenwelten (Hubers eigene Schaffenshistorie, Wolfgang Paulis Quantentheorie, C.G. Jungs Archetypenlehre, Sterndeutung u.v.m.) vernetzende Musik verführt zu einer sowohl durch sensuelle, psychische wie geistige Betätigung getragenen Rezeptionshaltung.
Klaus-Peter Werani (*1967): ouvrir, fermer. die feinen unterschiede (2021) für Bandoneon und Streichquintett (1.1.1.1.1.)
Eigenverlag, Partitur und Stimmen erhältlich über kpwerani [at] gmx.de (kpwerani[at]gmx[dot]de)
Stilrichtung, allg. Charakter
Komplexe Klangstudie, die die tiefen Timbres des meist akkordisch behandelten Bandoneons mit quecksilbrig instabilen Gespinsten spieltechnisch äußerst vielfältiger Streicherpartien engführt, bis letztere das eskalative Geschehen mit wachsender Konturenschärfe und Unwucht völlig usurpieren.
Form, Struktur
Einsätzige Form, die in drei attacca gespielte, textural autonome Abschnitte zerfällt. Einer Reihung distinkter Klangaktionsfelder folgt der Schwenk zu ruhigerem, kontinuierlichem Diskurs, der dann in polyphon verdichtete, teils hoketusartige, durch scharfe Akzente geprägte Fakturen umschlägt.
Notation, Dauer, Schwierigkeit
Traditionelle Partitur, viele Sonderzeichen für erweiterte Spieltechniken, einige Griffschriftelemente
Dauer: ca. 11 min.
sehr schwer
Kommentar
An Tugenden wie Feinheit, Differenziertheit, Komplexität des Denkens, wie sie der im Titel zitierte Soziologe Pierre Bourdieu pflegte, orientierte Musik, deren Knöpfe greifender Protagonist sich den Weg aus labyrinthischem Zaubergarten ins Gestrüpp des Dickichts bahnt – und dabei verloren geht.