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Rat bei den großen Geigern geholt

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Mendelssohn, Tschaikowsky, Martinu: Konzertantes für Violine in exzellenten Gesamtausgabebänden
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Ein historisch kontinuierliches Standardproblem bei der Komposition von Violinkonzerten seit Beethoven ist, dass nicht jeder der heute viel gespielten Komponisten ein so ausgezeichneter Geiger war und ist wie Tartini, Mozart, Sibelius, Nielsen, Respighi, Hindemith oder Pettersson.

Nun kann die Musikwissenschaft die prinzipielle Frage stellen, ob es besser ist, um der Maximierung der Originalität willen auch auf Gebieten, auf welchen man nicht zuhause ist, komplett eigenständig vorzugehen, oder sich Rat zu holen um den Preis gelegentlicher Anpassungen. Ich denke, wer Kompliziertes, Schwieriges schreibt, sollte zumindest wissen, dass dem so ist und in welchem Grade. Hätten die großen sow­jetischen Komponisten wie Schostakowitsch, Prokofieff oder Chatschaturian derart erfolgreiche Violinkonzerte schreiben können, ohne Kaliber wie Oistrach oder Kogan zu Rate ziehen zu können? Dass sowohl der gewaltige Brahms als auch der milde Rhapsode Bruch die Dienste des damals allgegenwärtigen Joseph Joachim in Anspruch nahmen, bescherte ihnen eine selbstverständliche Wirkungskraft, die selbst die besten Geiger für Robert Schumanns geniales Violinkonzert und seine späte 3. Violinsonate jedes Mal wieder aufs Neue erkämpfen müssen. Es mindert also nicht die kritische Urteilskraft, einzusehen, dass mehr oder weniger exzellente Pianisten wie Mendelssohn, Brahms, Tschaikowsky, Bartók, Szymanowski, Prokofieff oder Schostakowitsch es zuließen, wenn herausragende Geigenvirtuosen Einfluss auf die konkrete technische Gestaltung des Soloparts nahmen, ihm ein ‚geigerischeres‘ Idiom und mehr Glanz, Differenziertheit und Durchschlagskraft verliehen, aus einem anspruchsvollen überdies noch ein ‚dankbares‘ Violinkonzert zu gestalten verhalfen. Es liegt dabei natürlich immer beim Komponisten, zu erkennen, bis wo die angebotene Hilfe der musikalischen Essenz förderlich ist und ab wann sie dieselbe verwässert. Doch kennen wir heute Meister wie Mendelssohn, Brahms oder Tschaikowsky gut genug, um ihnen wohl kaum ernsthaft Mangel an schöpferischem Selbstbehauptungswillen zu unterstellen…

Nun ist also in der neuen Mendelssohn-Gesamtausgabe die 1845 abgeschlossene endgültige Fassung des berühmten Violinkonzerts in e-Moll erschienen, nachdem schon 2015 auf der Grundlage der Recherchen der tragisch früh verstorbenen Salome Reiser von Birgit Müller die bis dahin unbekannte Erstfassung von 1844 herausgegeben worden war. Aus den Untersuchungen geht hervor, dass Mendelssohn die Erstfassung autark erstellt und dann für die fernerhin gültige Gestaltung seinen Leipziger Konzertmeister Ferdinand David, einen seinerzeit legendären Virtuosen und den unnachgiebigen Initiator des Werkes, um entsprechende Mitwirkung gebeten hat. David sorgte dafür, dass das Konzert nicht nur für herausragende Virtuosen, sondern auch für die ‚gewöhnlichen Sterblichen‘ unter den Kollegen spielbar wurde und hat sich damit das unschätzbare Verdienst erworben, dass sich diese bis heute in der romantischen Konzertliteratur auf etwas unvergleichlich Substanzielleres stürzen können als etwa Bruchs g-moll-Konzert, dem damit keineswegs der Wert abgesprochen werden soll. Insofern verwundert Birgit Müllers latent durchgängige Polemik gegen David im ansonsten vorzüglich informierenden Vorwort ein wenig. Bei all der behutsamen Detailperfektion ist die Ausgabe vorbildlich geworden, doch darf man keine Sensationen erwarten, also auch keinerlei aufsehenerregende Fehlerkorrekturen. Die Empfehlung gilt der makellosen Sorgfalt.(Breitkopf & Härtel SON 434)

Bei Tschaikowsky erstreckt sich die Originalitätsdebatte sogar auf seine Klavierkonzerte, die er alle nicht selbst öffentlich vortrug und in welchen er zahlreiche unübersehbare Eingriffe wie etwa von Siloti im berühmten 1. Konzert zuließ. Kein Wunder, dass er auch das Violinkonzert, das er im März 1878 in einem wahren Schaffensrausch im schweizerischen Clarens in weniger als einem Monat in Partitur vollendete, nicht in ‚splendid isolation‘ schuf. Seine Muse war hier der junge, hochbegabte Geiger Iosif Kotek (1855–85). Nun ist Tschaikowskys Violinkonzert op. 35 endlich in der russischen Gesamtausgabe erschienen (Complete Works, Academic Edition, Vol. 5; Vertrieb: Schott Music). Das umfassend recherchierte Vorwort schildert (auf Englisch) in aller Ausführlichkeit das Drama um Entstehung, Widmung und Umwidmung, Zerwürfnis mit dem ihm aufrichtig ergebenen Kotek, Neukomposition des Mittelsatzes, und die krasse frühe Rezeptionsgeschichte mit Hanslicks berüchtigter Tirade von der Musik, „die man stinken hört“. Die Umstände sind wenigstens ebenso dramatisch wie die Musik selbst. Das Druckbild ist von außergewöhnlicher Deutlichkeit und unterstreicht die hohe Qualität einer aufwändig erstellten Ausgabe, die in ihrer Gründlichkeit die neue Referenz bildet und den Ausführenden unbedingt zu empfehlen ist. Und die Geiger wissen: Bei allen mittlerweile Virtuosenstandard gewordenen Schwierigkeiten ist dies ein Werk, welches die Geige wie kaum ein anderes über dem Orchester strahlen lässt. Danken wir dem früh verstorbenen Kotek, dieser tragischen Figur in Tschaikowskys Biografie, für seine selbstlose Mitwirkung!

Mit beeindruckendem Tempo schreitet bei Bärenreiter Prag die Martinu-Gesamtausgabe voran. Noch liegen die beiden Violinkonzerte nicht vor, doch der Reigen des Konzertanten, jeweils unter geigensolistischer Beteiligung, wird eröffnet mit den zwei Werken für vier Solisten und Orchester vom äußerst fruchtbaren Meister im Exil: dem 1931 für das Quatuor Pro Arte geschriebenen „Streichquartett mit Orchester“ und der 2. Sinfonia concertante von 1949, deren Solistenbesetzung (Geige, Oboe, Fagott und Cello) mit derjenigen der einzigen Sinfonia concertante von Joseph Haydn identisch ist. Diese Werke, beide in ihrer musikantischen Quirligkeit und alle Mitwirkenden herausfordernden orchestralen Virtuosität so typisch für Martinu, markieren vollkommen unterschiedliche Stationen seines Schaffens. Das Konzert für Streichquartett und Orchester, entstanden kurz nach dem entsprechenden Gattungsbeitrag des Schweizers Conrad Beck, bildet den ersten Höhepunkt in Martinus Renaissance des barocken Concerto grosso-Typus, die 1937 in seinem Concerto grosso für Kammerorchester den reinsten Ausdruck findet. In Amerika wandte sich Martinu dann während des Krieges zunehmend der entfesselteren Ausdruckswelt des Symphonischen zu, doch nach dem Kriege amalgamierte er zunehmend die verschiedenen Richtungen seines Schaffens und strebte eine ganzheitliche Synthese an. Die 2. Sinfonia concertante für Paul Sacher nimmt bewusst Bezug auf Haydn in ihrem Understatement und dem fein ausgetüftelten Humor, doch scheinen auch hier die bis zu Corelli zurückreichenden barocken Vorbilder noch stärker durch, ohne dass dies je in neobarockem Klischee erstarrte. Unübertroffen ist der Mittelsatz, der zum Bezauberndsten aus Martinus Feder gehört. Allerdings sind beide hier in einem Band vereinten Werke technisch, vor allem hinsichtlich Transparenz und – besonders im Streichquartett-Konzert – Balance, so anspruchsvoll, dass wirklich befriedigende Aufführungen stets äußerst selten sein werden. Es versteht sich sozusagen von selbst, dass von nun an vorliegender, in den Einführungen erschöpfend informierender Gesamtausgabeband (Serie III/2/4) schon alleine deshalb benutzt werden sollte, um die schwer herauszuhörenden kleinen Fehler der bisherigen Ausgaben zu vermeiden.

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